Artikel aus DER SPIEGEL Heft 41 04.10.2004
"Giftkur ohne Nutzen"
Immer ausgefeiltere und teurere Zellgifte werden schwer kranken Patienten mit
Darm-, Brust-, Lungen- oder Prostatatumoren verabreicht. Nun hat ein
Epidemiologe die Überlebensraten analysiert. Sein Befund: Allen angeblichen
Fortschritten zum Trotz leben die Kranken keinen Tag länger.
An Heiligabend wurde Erika Hagge ins Prosper-Hospital
Recklinghausen eingeliefert. Die Ärzte schnitten einen bösartigen Tumor aus
ihrem Darm und entfernten die Milz. Anfang August entdeckten
sie dann Metastasen.
Am Dienstag vergangener Woche erhielt die 64-jährige Hausfrau
ihre erste Chemotherapie. Gelöst in einer klaren
Flüssigkeit strömten zwei Zellgifte durch einen Infusionsschlauch in ihre Vene.
„Das ist immer noch wie ein Alptraum für mich. Ich hätte nie gedacht, dass ich mal Krebs habe", sagt Frau
Meyer. „Aber ich hoffe, dass es besser wird.
Die sind ja immer weiter mit der Chemotherapie."
Im Klinikum Großhadern der Universität München arbeitet
einer, der diesen Optimismus nicht teilen kann.
„Was das Überleben bei metastasierten Karzinomen in Darm, Brust, Lunge und
Prostata angeht, hat es in den vergangenen 25 Jahren keinen Fortschritt
gegeben", sagt der Epidemiologe Dieter Hölzel, 62. Er hat zusammen mit
Onkologen die Krankengeschichten Tausender Krebspatienten dokumentiert,
die in und rund um München seit 1978 nach dem jeweiligen Stand der Medizin
behandelt wurden. Die Menschen litten im fortgeschrittenen Stadium an einem der
vier Organkrebse. Mit jährlich etwa 100000 Todesopfern allein in Deutschland sind diese Tumorarten die großen Killer.
Gerade für Menschen mit Metastasen gilt die Chemotherapie als
Behandlung der letzten Wahl, wenn sich die verstreuten Tochtergeschwulste mit
Strahlen und Skalpellen nicht mehr erreichen lassen. Seit
Jahrzehnten werden immer neue Zellgifte eingesetzt. Oftmals verlangen
die Arzneimittelhersteller dafür astronomisch hohe Preise. Im Austausch
versprechen sie ein längeres Leben.
„Chance für Lebenszeit!" heißt es etwa auf einem drei
Meter großen Werbeplakat für das Krebsmittel „Taxotere". Der
Hersteller eines Konkurrenzpräparats wirbt unter dem Motto: „Taxol - dem Leben
eine Zukunft geben".
Und auch Erika Meyers Arzt in Recklinghausen gibt sich zuversichtlich: Die
Chemotherapie habe sich in den vergangenen 20 Jahren deutlich verbessert, sagt
der niedergelassene Onkologe Friedrich Overkamp, 47. Es
ließen sich „beträchtliche Lebensverlängerungen" erreichen.
Die neuen Zahlen des Krebsregisters der Universität München indes bestätigen
das nicht.
Die Überlebensraten haben sich in den vergangenen Jahrzehnten demnach
mitnichten verbessert (siehe Grafik):
Auszug aus der Grafik:
Überlebensrate von Patienten mit metastasiertem
Organkrebs in den vergangenen 26 Jahren:
Prostatakarzinom:
1 Jahr: > 80%
2 Jahre: >50%
3 Jahre: >30%
4 Jahre: >20%
8 Jahre: >5%
Quelle: Prof. Dieter Hölzel, Klinikum Großhadern, München
Heutige Patienten versterben genauso schnell an Krebs wie ihre
Leidensgenossen vor 25 Jahren.
Während die Kurve für Darmkrebs eine geringfügige Besserung zeigt, ist die Überlebensrate für Brustkrebs im Laufe der Jahre
sogar gesunken. Wahrscheinlich, meint Hölzel, handele es sich nur um zufällige
Schwankungen ohne Aussagekraft; aber selbst noch Schlimmeres hält er nicht für
ausgeschlossen:
„Ich befürchte, dass die systematische Ausweitung der Chemotherapie gerade
bei Brustkrebs für den Rückgang der Überlebensraten verantwortlich sein
könnte."
Die Aussage des Epidemiologen gilt ausdrücklich nicht für die medikamentöse
Therapie von Lymphkrebsarten, Morbus Hodgkin, Leukämien, Sarkomen und Hodenkrebs.
Diese Krankheiten können inzwischen in vielen Fällen auf
geradezu spektakuläre Weise geheilt werden.
Ebenso wenig gilt Hölzels Verdikt für jene Chemotherapien, die vor einem
chirurgischen Eingriff die Geschwulst verkleinern oder
nach der Operation die verbliebenen Krebszellen zerstören sollen.
Düster hingegen lese sich die Bilanz bei soliden Tumoren im fortgeschrittenen
Stadium, sagen erfahrene Kliniker.
Gerhard Schaller, 52, Gynäkologe von der Universität Bochum, konstatiert: „Für
das Überleben von Frauen mit fortgeschrittenem Brustkrebs hat die
Chemotherapie bisher praktisch nichts gebracht - viel Lärm um nichts."
Auch Wolfram Jäger, 49, Leiter der Gynäkologie der Städtischen Kliniken der
Landeshauptstadt Düsseldorf, hat ähnliche Erfahrungen gemacht:
„Es gab und gibt keine Erfolge. Da
werden riesige Mengen von Frauen behandelt, ohne dass ein Nutzen tatsächlich
bewiesen wäre. Wenn Sie das den Patientinnen sagen, die
verzweifeln ja total."
Millionen von Krebskranken unterzogen sich in den vergangenen 50 Jahren einer
Chemotherapie. Der erste Patient mit einem Lymphosarkom in
fortgeschrittenem Stadium wurde 1942 von US-Ärzten mit Senfgas behandelt.
Die Tumormasse schrumpfte auf geradezu wunderliche Weise. Zwar verpuffte der
Effekt nach drei Monaten, und der Patient starb - dennoch war die Ära der
Chemotherapie gegen Tumorleiden eingeläutet.
Die Zellgifte (Zytostatika) greifen auf unterschiedlichste Weise in die
Vermehrung von Zellen ein. Weil Tumorzellen sich häufiger teilen als die meisten anderen Körperzellen, sind Geschwulste und
Metastasen für Zytostatika besonders anfällig: Sie können schrumpfen, und
mitunter verschwinden sie sogar ganz.
Allerdings können auch gesunde Zellen, die sich rasch teilen, geschädigt
werden: die Zellen der Haarwurzeln etwa, aber auch die Blut bildenden Zellen
des Knochenmarks. Weil sie bei Leukämien oder
Lymphomen so spektakuläre Erfolge erzielte, wurde die Giftkur bald auch den
vielen Patienten mit Organtumoren verordnet
Doch leben diese dank Chemotherapie überhaupt länger? Die entscheidende
Vergleichsstudie wurde nie durchgeführt. Wahrscheinlich wird sich die Frage
gar nicht mehr beantworten lassen. In klinischen Studien vergleichen die
Hersteller stets nur neue mit alten Zellgiften; Kontrollgruppen, die gar nicht behandelt
werden, gibt es nicht.
Um auf dem Markt zugelassen zu werden, reicht es, an einer
kleinen Schar handverlesener Testpersonen irgendeinen Vorteil gegenüber einem
bereits zugelassenen Zellgift „statistisch signifikant" erscheinen zu
lassen.
Die Mittel, um die es dabei geht, sind alles andere
als harmlos. Manche der frühen Chemotherapeutika rafften
binnen wenigen Wochen etliche Patienten dahin und waren auf dem Markt nicht
zu halten.
Aber auch die anderen Giftgaben bedeuteten vielfach, lebendig durch die
Hölle zu gehen.
Die Menschen verloren die Haare und den Appetit, mussten sich übergeben,
waren abgeschlagen und wurden von Entzündungen geplagt.
Zudem keimte bei einigen Medizinern langsam der Verdacht, dass die so
gepriesenen Zytostatika womöglich gar nicht mehr konnten, als
Metastasen vorübergehend schrumpfen zu lassen.
Im September 1985 erklärte der inzwischen verstorbene Klaus Thomsen, damals
seit zwei Jahrzehnten Direktor der Gynäkologie der Universitätsidinik
Hamburg-Eppendorf, auf einem internationalen Kongress in Berlin:
„Es sollte uns nachdenklich stimmen, wenn eine zunehmende Zahl von Ärztinnen
und Ärzten sagt: An mir würde ich eine solche Therapie nicht vornehmen
lassen."
Zehn Jahre später war es dann der Epidemiologe Ulrich Abel
von der Universität Heidelberg, der den Nutzen der Chemotherapie in Zweifel
zog. Ein Jahr lang hatte der Wissenschaftler mehrere tausend
Publikationen zur Chemotherapie gesichtet .
Erschüttert stellte er fest, dass „bei den meisten Organkrebsen keinerlei
Belege dafür existieren, dass die Chemotherapie -speziell auch die immer mehr
um sich greifende Hochdosistherapie - die Lebenserwartung verlängert oder die Lebensqualität verbessert".
Namhafte Onkoligen stimmten dem Verdikt zu – die Ausbreitung der Chemotherapie
konnte das nicht stoppen.
Wohl nicht zuletzt, weil die Ärzte ihren Patienten
nicht eingestehen wollen, dass sie dem Krebs gänzlich wehrlos gegenüberstehen,
ist die Giftkur zu einem Dogma der Medizin geworden.
Das stellt alle Beteiligten zufrieden: „Der Arzt ist
froh, dass er etwas anbieten kann, die Patienten sind froh, dass sie etwas
nehmen können, und die Industrie freut sich", konstatiert der
Düsseldorfer Frauenarzt Jäger. Erfordert mehr Geld für Früherkennung, statt
Millionensummen für die teuren Chemotherapien zu verpulvern. Deren
Fortschritte liegen eher in der Minderung der Leiden, die sie selbst bewirken.
Früher schwächten die Zellgifte die Patienten dermaßen, dass sie im
Krankenhausbett überwacht werden mussten. Nun liegen Mittel gegen Haarausfall,
Brechreiz, Appetitlosigkeit, Durchfall und Verstopfung bereit; viele
Chemotherapien können inzwischen sogar ambulant durchgeführt werden, und die
Menschen müssen kaum mehr spucken. „Deshalb", erklärt
der Recklinghäuser Onkologe Overkamp, „konnte ich in meiner Praxis auch Teppich
verlegen."
Jedes Quartal verschreibt Overkamp seinen 1100 Krebspatienten Medikamente im
Wert von etwa 1,5 Millionen Euro. Bundesweit summierte
sich der Umsatz der Zytostatika zwischen August 2003 und Juli 2004 auf 1,8
Milliarden Euro -ein Plus von 14 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Antikörper, die Krebszellen gezielt erkennen können, sind
die neuesten Preistreiber. Und wieder sehen die Hersteller einen Durchbruch - doch
eindeutige Belege, ob das Leben unheilbar kranker Krebspatienten verlängert
werden kann, fehlen auch hier. Die Konkurrenz durch die neuen Antikörper
führt unterdessen dazu, dass altbekannte Zellgifte umso aggressiver in den
Markt gedrängt werden.
Seit Jahrzehnten bringen Arzneimittelhersteller immer neue Zytostatika auf den
Markt; in den siebziger Jahren waren 5, in den Neunzigern dagegen bereits rund
25 Mittel zugelassen. „Wenn da jedes Mal ein kleiner
Fortschritt gemacht wurde", wundert sich der Münchner Epidemiologe Hölzel,
„dann hätte das in den vergangenen Jahrzehnten zu bemerkenswerten
Verbesserungen führen sollen. Die aber können wir in unserem
Krebsregister nicht ablesen."
Auch in den vielen tausend Forschungsmitteilungen der Industrie fällt es schwer,Hinweise auf einen Überlebensvorteil zu finden. Für das metastasierte Mammakarzinom etwa deuten nur zehn Studien
an, ein bestimmter Zytostatika-Cocktail verlängere das Leben im Vergleich zu
einer anderen Mixtur. Weil aber Tausende
Vergleichsstudien durchgeführt wurden, so der Heidelberger Epidemiologe Abel,
seien „statistisch auffällige Unterschiede in einer erheblichen Zahl von
Studien einfach auf Grund des Zufalls zu erwarten".
Die Befürworter der Chemotherapie verweisen vor allem auf zwei Arbeiten, die
den Nutzen ihres Tuns zu belegen scheinen. So haben
französische Forscher die Verläufe von insgesamt 724 Patientinnen mit
metastasiertem Brustkrebs verglichen. Demnach hat sich die
Uberlebensrate drei Jahre nach Diagnose von 27 Prozent (Behandlung zwischen
1987 und 1993) auf 43 Prozent (1994 bis 2000) erhöht.
Epidemiologe Hölzel jedoch führt das auf einen Trugschluss
zurück. Die metastasierten Brustkrebse im Zeitraum 1994 bis 2000
wurden offensichtlich frühzeitiger erkannt als die alten Fälle. Weil die
Krankheit bei Erstdiagnose noch nicht so weit fortgeschritten ist und die Lebenserwartung deshalb noch höher liegt, zählen
die Forscher folglich mehr Lebenstage bis zum Tod. Das
schlägt sich in einer verbesserten Überlebensrate nieder - ohne jedes Zutun
einer Therapie.
Gern zitiert wird auch ein Befund, den Forscher der
University of Texas in Houston im August 2003 vorgelegt haben. Die
Fünf-Jahres-Überlebensrate von Frauen mit metastasiertem Brustkrebs hat sich
demnach in den Jahren 1974 bis 2000 kontinuierlich
verbessert: von 10 Prozent auf 44 Prozent. Ihren Artikel garnieren sie mit
einer Übersicht über all jene Zytostatika, die den sagenhaften Fortschritt
angeblich möglich machten.
Bloß: In der Studie werden Frauen mit und solche ohne Metastasen miteinander
verglichen. „Die Gruppen aus jüngerer Zeit waren verzerrt durch Patientinnen
mit günstigeren Prognoseprofilen", räumen die Autoren des
Jubelartikels in einem versteckten Satz ein.
„Es gibt überhaupt keine systematische Dokumentation, das
ist der große Mangel der Krebsmedizin", klagt Hölzel angesichts solcher
Trickforschung.
Mit seiner Forderung nach sauberen wissenschaftlichen Belegen dürfte Kritiker
Hölzel die Branche indes kaum aufrütteln. Denn die kommt schließlich auch ohne
den Nachweis eines Nutzens für sterbenskranke Krebspatienten ganz gut zurecht.
JÖRG BLECH