Hans-Heinrich Jörgensen
Ein
ausgewiesener Experte in Sachen Schüßler-Salz-Therapie. Jörgensen ist
Heilpraktiker seit 1962 und Vizepräsident des Biochemischen Bundes
Deutschlands. Viele Jahre war er Mitglied der wissenschaftlichen
Aufbereitungskommission für Mineralstoffe und Vitamine beim
Bundesgesundheitsamt.
Zur Bedeutung des Säure-Basen-Haushaltes in der Onkologie
(Aufsatz in "Der Heilpraktiker/Volksheilkunde 3/2011)
Land auf und Land ab wird behauptet, dass wir alle schon ganz
schrecklich übersäuert seien, und dass die Säure das Übel aller Übel ist, und
zu Krebs, Rheuma und Herztod führt. Begründet oder bewiesen wird allerdings
nichts.
Zur Ehrenrettung unseres Schöpfers sei es gesagt: es ist nicht ganz so
dramatisch, wie es derzeit postuliert wird, der Anteil der nachweisbaren
pathologischen Veränderungen liegt eher bei 7% als bei 70%. Wer jedoch wirklich
übersäuert ist, der ist in der Tat ein Risikopatient.
Der so beliebte Begriff "Übersäuerung" trifft nicht ganz das
Problem. Sowohl im Blut wie auch in anderen Kompartiments wird der pH-Wert
durch funktionierende Puffersysteme immer im Normbereich gehalten. Richtiger
wäre es, von einer Minderung der Pufferkapazität zu sprechen, die inzwischen ja
auch ambulant messbar ist [1]. Diese Pufferkapazität wird durch basische
Mineralstoffverbindungen aufrecht erhalten und durch anaerobe
Stoffwechselvorgänge vermindert.
Darum sind auch alle Patienten, die durch diätetische Fehler zu viel
saure und zu wenig basische Valenzen aufnehmen, die durch bestimmte Medikamente
eben den gleichen Fehler machen, und alle Patienten, die infolge verminderter
Sauerstoffaufnahme, verminderten Sauerstofftransportes oder verminderter
Sauerstoffutilisation zur Hypoxämie neigen, gedanklich dem obigen Risikokreis
zuzuordnen.
Sie, die Sie heute tiefer in die Problematik der Onkologie eindringen
wollen, geben sich nicht allein mit der kühnen Behauptung "dass
....." zufrieden, Sie wollen wissen, wann, wie und wo greifen
Veränderungen des Säure-Basen-Haushaltes ursächlich in das Krebsgeschehen. Dazu
muss man allerdings etwas tiefer recherchieren.
Das ganze begann mit dem Biochemiker Otto Heinrich WARBURG, der 1931 mit
dem Nobelpreis für Medizin für die Entdeckung der Zytochromoxidase und die
Beschreibung der Atmungskette und der Zellatmung ausgezeichnet wurde.
Eigentlich meinte Warburg, der Krebsentstehung auf der Spur zu sein. Seine
Hypothese, dass die Umwandlung der Energiegewinnung von der Zellatmung zur
Gärung, also zur Hypoxämie oder anaeroben Energiegewinnung die Ursache des
Krebses sei, fand keine allgemeine Anerkennung. Immerhin war aber Warburg der
erste, der bereits 1952 auf die Cancerogenität der Industrieabgase hinwies.
Paul Gerhardt SEEGER griff Warburgs Hypothese auf und hat sich sein
ganzes Leben lang ganz und gar dieser Idee verschworen. Er hat viele
Denkanstöße gegeben, die sich noch heute großer Beliebtheit insbesondere in der
alternativen Krebsdiagnostik und Therapie erfreuen, auch wenn sie nicht immer
ihre wissenschaftliche Verifizierung fanden. So z.B. den Hinweis auf die
linksdrehende Milchsäure als Risiokofaktor, auf Ubichinon, das heute als
"Vitamin Q10" vermarktet wird, auf die Diazo-Reaktion mit der
Carcinochrom- oder auch Gutschmidt-Reagenz, auf den Vitamin-C-Mangel als
Schadfaktor und auf die immundepressive Wirkung des Östrogens.
Letztlich hat sich die These von der gestörten Zellatmung als Ursache
des Krebses nicht durchsetzen können. Alle Forschungsergebnisse von Warburg,
Seeger und anderen lassen die Frage offen, ob denn ein vermehrt oder vermindert
gemessener Parameter die Ursache der Krankheit oder ihre Folge ist - oder gar
Ausdruck des körpereigenen Abwehrbemühens. Diese Frage wird bei aller
Laborgläubigkeit viel zu selten gestellt. Die fehlende Antwort ist die Quelle
unzähliger Irrtümer der Medizingeschichte.
Auch Seeger ist den Beweis für die Hypoxämie als Ursache des Krebses
schuldig geblieben - und erst recht den Beweis, dass eine Umkehr der
Atmungsketten-Störung den Krebs wieder heilen kann.
Trotzdem war die Richtung, in die er dachte, so verkehrt nicht, denn in
der Tat gibt die Hypoxämie, die lokale Azidose oder die Verminderung puffernder
Substanzen an vielen Stellen den Anstoß zu Veränderungen im Sinne der
Krebsentstehung oder Krebsverschlimmerung.
Die auf dem Boden der Naturwissenschaften stehende Medizin ist sich
inzwischen ziemlich einig, dass am Anfang einer Krebserkrankung die Mutation
einer Zelle steht. Das heißt, der Code der Aminosäuren wird bei der Dublikation
der DNS/RNS an falscher Stelle, falsch herum, in falscher Reihenfolge oder auch
überhaupt nicht eingebaut. Das verändert die Eigenschaften der Zelle zum guten,
zum schlechten und oft auch ohne jede Bedeutung, denn der genetische Code
enthält unendlich viele völlig belanglose Informationen, deren Veränderung ohne
zumindest erkennbare Folgen bleibt.
Eine Mutation muss nicht a priori etwas schlimmes sein. Ohne Mutationen
gäbe es die genetische Vielfalt der Tier- und Pflanzenwelt nicht. Und ohne
Mutationen wäre aus dem einzelligen Pantoffeltierchen nie der homo sapiens sapiens
geworden. Nur böse Zungen behaupten, das sei die bösartigste aller
Krebsgeschwülste.
Diese Veränderung der genetischen Information wird bei der Zellteilung
auf die Tochterzelle und damit auf alle Nachkommen dieser Zelle übertragen.
Aber damit ist noch lange kein Krebs entstanden. Solche Mutationen finden
ständig statt, bei jedem Zellgenerationswechsel zigtausendfach - und meist
bleiben sie ohne Folgen. Erst eine zweite, dritte oder weitere Mutation der
veränderten Zelle, die den Phänotyp, die Proliferation und die
Teilungshäufigkeit der Zelle verändert, macht die Zelle unberechenbar und
bösartig. Von der ersten Mutation bis zur Krebsgeschwulst können Jahrzehnte
verstreichen.
Als ursächliche Faktoren für Mutationen gelten nach einhelliger
Auffassung ionisierende Strahlen, viele chemische Stoffe, Viren und ein saurer
pH-Wert.
Da der genetische Code im Zellinneren verborgen ist, muss auch die
pH-Verschiebung zur sauren Seite hin intrazellulär erfolgen. Es gibt ernsthafte
Hinweise darauf, dass ein intrazellulärer K+-Mangel durch H+-Ionen, also Träger
der Säure, substituiert wird [2,3]. Das bedeutet, dass Kaliummangelpatienten
ein erhöhtes Risiko tragen. Die in der Literatur vielfach zu findende Meinung,
beim Krebs werde das Blut alkalisch, ist falsch. Das allein messbare Plasma
wird alkalisch weil die sauren Valenzen sich im Intrazellulärraum vor der
Mess-Sonde verstecken - und übrigens auch vor den Messfühlern der Niere, die
dann nicht mehr für die Homöostase sorgen kann [4]. Auch die intra-/extrazelluläre
Verschiebung saurer Valenzen, die in der naturheilkundlichen Literatur etwas
ungenau als Blut und Gewebe unterschieden wird, ist mit dem oben erwähnten
Verfahren messbar.
Nun verfügt aber unser Organismus über etliche fein ausgeklügelte
Kontrollsysteme. Auch die Duplikation der DNS/RNS läuft nicht ohne Überwachung
ab. Das Kontroll-Gen p53, das seinen Namen nach seiner Molekulargröße von 53
000 Dalton erhalten hat, prüft ständig die Richtigkeit der übertragenen
"Daten"-Sequenzen. Stellt p53 einen Fehler fest, wird die fehlerhafte
Sequenz herausgeschnitten und durch eine neue ersetzt. Ist jedoch der Fehler zu
groß und irreparabel, leitet p53 die Apoptose, den Untergang der Zelle ein,
wenn Sie so wollen, ihren Selbstmord.
Auch p53 muss also mutiert sein, um in seiner Kontrollfunktion zu
versagen. Zur mehrfachen Zellmutation muss also auch noch die Mutation des
Überwachungssystems kommen, damit ein Carcinom entsteht. Und in der Tat findet
man bei Carcinompatienten in etwa 50% der Fälle, bei Adenomen weniger, vermehrt
mutierte p53-Gene. Der Nachweis wird inzwischen auch schon als Diagnostikum
angeboten. Ohne intaktes p53 versagt der Reparaturmechanismus oder der
notwendige Zelltod.
Nun kann der Tumor wachsen. Er teilt sich durch ständige Verdoppelung.
Sie alle kennen die Geschichte vom "Erfinder" des Schachspiels, der
sich von seinem ägyptischen Pharao etwas wünschen durfte. Er wünschte sich
Weizen auf das Schachspiel, auf's erste Feld ein Korn, auf's zweite zwei
Körner, auf's dritte vier, und dann jeweils die doppelte Zahl Körner. Soviel
Weizen, wie auf das 64. Feld kämen, könnte die ganze Erde nicht fassen. Das
macht deutlich, dass auch der maligne Tumor zunächst relativ langsam, dann aber
schneller und immer schneller wächst.
Hier schlägt die Stunde des Immunsystems. Phagozyten erkennen die
veränderte Zellkolonie als fremd und feindlich und vernichten sie -
vorausgesetzt, das Immunsystem ist intakt. In dem Zusammenhang: Es gibt mehrere
retrospektive Studien, die den Zusammenhang zwischen Krebs und fieberhaften
Erkrankungen in der Anamnese untersuchen. Ergebnis: Wer häufig Fieber hatte,
hat ein geringeres Krebsrisiko, wer Fieber nicht kennt, ein größeres.
Ein saurer pH-Wert ist der Feind des Immunsystems. Eine mäßige
Ansäuerung führt zur vermehrten Produktion von Interleukin 8, also zur
Stimulation des Immunsystems. Wir sollten uns aber öfter vor Augen halten, dass
ein Immunstimulanz eigentlich ein Schadfaktor ist, sonst würde das Immunsystem
nicht mit vermehrter Aktivität antworten. Und nach der bekannten Regel von den
kleinen und großen Reizen bringt in der Tat zu viel Säure die Immunabwehr und
damit die Phagozytose der noch kleinen Krebskolonie zum Erliegen.
Bei 104 Zellen, das entspricht etwa 214 Zellen,
also bei der 14. Zellgeneration ist der Krebs in der Regel stärker als die
Immunabwehr. Einen Tumor dieser Größe schaffen die Phagozyten nicht mehr.
Ausnahmen bestätigen die Regel, und sicher gibt es auch Spontanheilungen selbst
großer solider Tumoren, wenngleich gegenüber solchen Berichten immer eine gute
Portion Skepsis angebracht ist.
Bei 106 Zellen, das entspricht ungefähr einem Millimeter
Größe, schreit das Gebilde nach Ernährung und Durchblutung, Gefäße und auch
Nerven sprießen ein, die Angiogenese beginnt.
Und erst bei 109 Zellen, etwa ein Gramm oder ein Zentimeter,
beginnen wir etwas zu spüren, zu tasten, durch bildgebende Verfahren sichtbar
zu machen. Unsere Diagnostik kommt also spät, sehr spät, leider oft zu spät. Darum
müssen alle alternativen Verfahren, die der Prophylaxe oder Selbstheilung
dienen sollen, auch lange vor jeder Diagnose einsetzen. Ist der Tumor erst
tast- oder sichtbar, kann naturheilkundliche Therapie nur noch komplementär und
nicht alternativ sein.
Sehr früh also ist der Tumor auf Durchblutung und Ernährung angewiesen.
Und paradoxerweise wächst er um so schneller, je schlechter er versorgt wird.
Die Hypoxämie ist der physiologische Reiz, der die Angiogenese anregt [5]. Je
schneller die Gefäße sprießen, desto schneller wächst der Tumor. Die anaerobe
Stoffwechsellage, die Seeger immer im Auge hatte, läßt also nicht primär den
Krebs entstehen, fördert aber sein Wachstum und auch seine Aggressivität. Die
anaerob lebenden Zellen sind die aggressiveren, und sie überleben im
hypoxämischen Milieu leichter und teilen sich schneller, so dass die
sauerstoffarme, zur sauren Seite tendierende Stoffwechsellage des anämischen,
mineralarmen und gefäß-, kreislauf- oder bronchialkranken Patienten zu
schnellerem Wachstum und selektiver Vermehrung besonders aggressiver Zellen
führt.
Und schließlich stellt sich die Frage nach der Metastasierung. Alle
Zellen im menschlichen Körper haben ihren festen vorgegebenen Standplatz.
Verlassen sie ihn, fallen sie der Apoptose, dem Zelluntergang anheim. Eine
Kapsel um die Organe verhindert das, unser Krebs aber ist von keiner
schützenden Kapsel umgeben. Eine Zellart jedoch macht eine Ausnahme: die
Leukozyten können sich überall im Körper frei bewegen. Sie wandern nicht nur in
der Blutbahn, sie können diese verlassen und ins Gewebe eindringen. Das
ermöglicht ihnen ein Oberflächenprotein namens CD24, das mit den Selektinen an
der Gefäßwand reagiert und wie ein "Sesam öffne dich" den Durchtritt
der Leukozyten ermöglicht [6]. Und diese Eigenschaft haben sich die Krebszellen
von den Leukozyten abgeguckt. Auch sie können auf ihrer Wanderschaft Gefäßwände
durchdringen und in andere Gewebe migrieren.
Ehe sie aber auf Wanderschaft gehen, müssen sie ihren Zellverband
verlassen. Hier spielt die Zelladhäsion, das Aneinanderhaften von Zellen in
einem Verband, eine große Rolle. Diese Zelladhäsion ist von einer ausreichenden
Calciumversorgung vor Ort abhängig, also ebenfalls einem puffernden Mineral.
Für meine eigene Praxis habe ich daraus die Schlussfolgerung gezogen, meine
Patienten immer dann massiv mit Calcium zu versorgen, wenn sie sich einem
besonderen Metastasierungsrisiko aussetzen, z.B. vor der Brustpalpation oder
Mammografie, vor der digitalen Untersuchung der Prostata, vor allem natürlich
vor Feinnadelbiopsien, wenn sie sich gegen meinen Rat dazu entschließen, und
selbstverständlich, wenn es zur Krebsoperation geht. Ich gehe weiter davon aus,
dass die membranabdichtende Wirkung des Calciums dazu beiträgt, die Migration
maligner Zellen durch die Gefäßwände zu verringern.
Ich fasse abschließend die sechs Punkte zusammen, an denen der
Säure-Basen-Haushalt für die Onkologie bedeutsam erscheint:
1.
Die Mutationskaskade einer Zelllinie kann durch sauren pH ausgelöst
werden.
2.
Die ebenso ausgelöste Mutation des Kontroll-Gens p53 lässt Reparaturmechanismen
und Apoptose versagen .
3.
Immunkompetenz und Phagozytose werden durch die Azidose gehemmt.
4.
Eine Hypoxämie regt die Angiogenese und damit das Tumorwachstum an und führt zur
selektiven Teilung aggressiver Zellen.
5.
Die Zelladhäsion wird unter einem Calciummangel vermindert, wodurch das
Metastasierungsrisiko steigt.
6.
Die Migration maligner Zellen durch Gefäßwände ist im Calciummangel
begünstigt.
Literaturverzeichnis
[1] Jörgensen HH: Säure-Basen-Haushalt - Ein praxisnahes Meßverfahren
zur Bestimmung der Pufferkapazität. "Erfahrungsheilkunde" 5/1985, S.
372-377
[2] Burnell JM, Teubner EJ, Simpson DB: Matabolic acidosis accompanying
potassium deprivation. American Journal of Physiology, Vol.227, 2/1974, S.
329-333
[3] Kupriyanov VV, Xiang B, Kuzio B, Deslauriers R: pH regulation of
K(+) efflux from myocytes in isolated rat hearts. American Journal of
Physiology, 277; 1 Pt, Juli 1999, S. 279-289
[4] Jörgensen HH: Säure-Basen-Haushalt - Das Kalium-Mißverständnis.
"Erfahrungsheilkunde 8/1996, S.490-494
[5] Vaupel P, et al: Die Bedeutung des Hämoglobin-Wertes für die
Tumorbehandlung. Deutsche Medizinische Wochenschrift, 124. Jahrgang, Heft 13
/1999, Sonderbeilage zum Symposium des DEGRO
[6] Altevogt P: CD24 als Ligand für P-Selektin und Regulator von
Integrinen. Arbeitsprojekt
am Deutschen Krebsforschungszentrum Heidelberg, unveröffentlicht