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Drachenwut's PolitikblogPolitische KorrektheitPolitische Korrektheit (dengl. pollitickel koräktnäss) ist heutzutage, dass logisch-auf sich beruhende Gegenteil von faktischer Korrektheit. |
Dichters Gesetz
Von Uri Avnery |
16.August 2011
“DAS VOLK verlangt soziale
Gerechtigkeit!“ riefen 250 000 Demonstranten am
Samstag unisono in Tel Aviv. Aber was sie brauchen, ist „mehr arbeitslose
Politiker“ – um einen amerikanischen Künstler zu
zitieren.
Glücklicherweise ist die Knesset für drei
Monate in verlängerte Ferien gegangen. Denn wie Mark Twain witzelte: „Niemandes
Leben und Besitz ist sicher, solange die Legislatur tagt.“
Als wollte er dies belegen, hat Knessetmitglied Avi Dichter noch am
letzten Sitzungstag einen so haarsträubenden Gesetzesvorschlag eingereicht, dass
dieser leicht die vielen anderen rassistischen Gesetze, die in letzter Zeit von
dieser Knesset angenommen wurden, übertrumpft.
DICHTER IST (wie uns Deutschen bekannt ist) ein
deutscher Name, und seine Bedeutung ist uns natürlich bekannt. Aber er ist kein Dichter. Er ist der frühere Chef der
Nachrichtendienste, die hier unter „Geheimpolizei“ (Shin
Bet oder Shabak) läuft.
Stolz verkündete er, dass er anderthalb Jahre gebraucht habe, um dieses
besondere Projekt zu „feilen“ und dies zu einem
juristischen Meisterwerk zu machen.
Und es ist ein Meisterstück. Kein Kollege im
damaligen Deutschland und im gegenwärtigen Iran hätte ein glanzvolleres Stück
produziert. Die anderen Knessetmitglieder schienen genau so zu empfinden –
nicht weniger als 20 der 28 Kadima-Fraktion wie auch alle anderen durch und
durch rassistischen Mitglieder dieser illustren Körperschaft haben ihren Namen
unter diese Gesetzesvorlage als Koautoren gesetzt.
Der eigentliche Name –„Das Grundgesetz: Israel der Nationalstaat des
jüdischen Volkes“ – zeigt, dass dieser Dichter weder
ein Poet noch ein Intellektueller ist. Unter Geheimpolizeichefs ist das ja sehr selten.
Den Begriffen „Nation“ und „Volk“ liegen zwei
verschiedene Vorstellungen zu Grunde. Es wird gewöhnlich akzeptiert, dass ein
Volk eine ethnische Entität ist, eine Nation eine
politische Gemeinschaft. Sie existieren auf zwei
verschiedenen Ebenen. Aber das ist hier egal.
Es ist der Inhalt der Gesetzvorlage, der zählt.
WAS DICHTER vorschlägt, ist, der offiziellen Definition von Israel als „einem
jüdischen und demokratischen Staat“ ein Ende zu
setzen.
Stattdessen schlägt er vor, klare Prioritäten zu setzen: Israel ist vor allem der Nationalstaat des jüdischen Volkes und
erst danach ein demokratischer Staat. Wo auch immer
die Demokratie mit der Jüdischkeit des Staates kollidiert, siegt die
Jüdischkeit und verliert die Demokratie.
Dies macht ihn übrigens zum ersten rechten Zionist (außer Meir Kahane),
der offen zugibt, dass es einen grundsätzlichen Gegensatz zwischen einem
„jüdischen“ Staat und einem „demokratischen“ Staat gibt. Seit 1948 ist dies von allen zionistischen Fraktionen, ihrer Phalanx
von Intellektuellen und dem Obersten Gericht, entrüstet geleugnet worden.
Die neue Definition bedeutet, dass der Staat Israel allen Juden in der
Welt gehört – einschließlich den Senatoren in Washington, den Drogenhändlern in
Mexiko, den Oligarchen in Moskau und den Casinobesitzern in Macao, aber nicht
den arabischen Bürgern Israels, die seit mindestens 1300 Jahren hier gewesen
sind, als die Muslime Jerusalem betraten. Die christlichen Araber verfolgen
ihre Herkunft zurück bis zur Kreuzigung Jesu vor 1980 Jahren, die Samaritaner
waren seit 2500 Jahren hier und viele Dorfbewohner sind wahrscheinlich
Nachkommen der Kanaaniter, die schon vor 5000 Jahren hier lebten.
All diese werden, sobald die Gesetzesvorlage zum Gesetz wird, Bürger
zweiter Klasse werden, nicht nur in der Praxis wie jetzt, sondern auch nach der
offiziellen Doktrin. Wenn ihre Rechte mit dem zusammenprallen, was die jüdische
Mehrheit für die Erhaltung der Interessen des „Nationalstaates des jüdischen
Volkes“ für notwendig erachtet – was alles einschließt von Landbesitz bis zu
den strafrechtlichen Gesetzen – ihre Rechte werden ignoriert werden.
DIE GESETZESVORLAGE selbst
lässt nicht viel Raum für Spekulationen. Sie
spricht die Dinge klar und deutlich aus.
Die arabische Sprache wird ihren Status als
zweite offizielle Sprache verlieren – einen Status, den sie im Ottomanischen
Reich, auch unter britischem Mandat und in Israel bis heute besaß. Die einzige
offizielle Sprache im Nationalstaat etc. wird Hebräisch sein.
Nicht weniger typisch ist der Paragraph, der
besagt, dass wann immer es im israelischen Gesetz eine Lücke gibt, das jüdische
Gesetz angewandt werde.
„Das jüdische Gesetz“ ist der Talmud und die
Halacha, das jüdische Äquivalent zur muslimischen Sharia. Praktisch bedeutet
dies, dass rechtliche Normen, die vor 1500 Jahren oder
länger angenommen wurden, über die rechtlichen Normen triumphieren, die sich
während der letzten Jahrhunderte in England und anderen europäischen Ländern
entwickelten. Ähnliche Klauseln gibt es in den Gesetzen von
Pakistan und Ägypten. Die Ähnlichkeit zwischen jüdischem und islamischem
Gesetz ist nicht zufällig. Der
arabisch sprechende jüdische Weise wie Moses Maimonides („der Rambam“) und ihre
zeitgenössischen muslimischen Rechtsexperten beeinflussten einander.
Die Halacha und die Sharia haben viel gemeinsam. Sie verbieten
Schweinefleisch, praktizieren die Beschneidung, halten Frauen in Knechtschaft,
verurteilen Homosexuelle und Ehebrecher zum Tode und verweigern die den
Ungläubigen die Gleichheit. (Praktisch haben beide Religionen
viele ihrer harten Strafen modifiziert. In der jüdischen Religion z.B.
bedeutet „Auge um Auge“ heute Kompensation. Sonst würden wir heute alle blind sein, wie Gandhi einmal treffend
sagte.
Nach Inkraftsetzung dieses Gesetzes wird Israel viel näher am Iran sein als an den USA. Die „einzige Demokratie im Nahen Osten“ wird aufhören, eine Demokratie zu sein, aber in ihrem
Wesen sehr nahe an einigen der schlimmsten Regime in dieser Region.
„Schließlich und endlich wird sich Israel selbst in diese Region integrieren,“ spottete ein arabischer Schriftsteller, der auf einen
Slogan anspielt, den ich vor 65 Jahren prägte: „Integration in die semitische
Region“.
DIE MEISTEN Knessetmitglieder, die diese Gesetzesvorlage
unterzeichneten, glauben inbrünstig an das „ganze Erez Israel“ und meinen damit
die offizielle Annexion der Westbank und des Gazastreifens und Ost-Jerusalems.
Sie meinen nicht die
„Einstaatenlösung“, von der so viele wohlmeinende Idealisten träumen.
Praktisch ist der einzige „eine Staat“ der machbar wäre, derjenige, der
von Dichters Gesetz regiert wird: der „Nationialstaat des jüdischen Volkes“ mit
den Arabern, die zu den biblischen „Holzfällern und Wasserträgern“ degradiert
werden.
Sicher werden die Araber in diesem Staat die Mehrheit darstellen – aber
wen kümmert’s? Da die Jüdischkeit des Staates die
Demokratie außer Kraft setzt, wird ihre Anzahl irrelevant sein. Genau wie die
Anzahl der Schwarzen in der Apartheid Südafrika.
WERFEN WIR einen Blick auf die Partei, zu der dieser „Poet“ des Rassismus gehört: Kadima.
Als ich in der Armee war, amüsierte ich mich immer über den Befehl : „Die Truppe wird sich nach hinten bewegen –
vorwärts marsch!“
Dies mag absurd klingen, aber es ist wirklich
logisch. Der erste Teil des Befehls bezieht sich auf die Richtung und der
zweite Teil auf die Ausführung.
„Kadima“ bedeutet „vorwärts“, aber seine
Richtung ist rückwärts gewandt.
Dichter ist ein prominenter Führer von Kadima.
Da sein einziger Anspruch auf einen Rang seine frühere Rolle als
Chef der Geheimpolizei war, muss es dies sein, dass er gewählt wurde. Aber es
haben sich ihm in diesem rassistischen Projekt mehr als
80% der Kadima-Knesset-Fraktion angeschlossen – der größten im gegenwärtigen
Parlament.
Was sagt das über Kadima?
Kadima ist ein trostloser Fehlschlag –
praktisch in jeder Hinsicht. Als Oppositionsfraktion im Parlament ist sie tatsächlich ein trauriger Witz. Ich wage zu sagen: als ich eine Ein-Mann-Fraktion in der Knesset war,
produzierte ich mehr Oppositionsaktivitäten als dieser 28köpfige Koloss. Sie
hat noch keinen bedeutenden Standpunkt über Frieden und die Besatzung
formuliert, geschweige denn über soziale Gerechtigkeit.
Ihre Führerin Zipi Livni hat sich auch als
totaler Fehlschlag erwiesen. Ihre einzige Leistung bis jetzt ist ihre Fähigkeit
gewesen, die Partei zusammenzuhalten – allerdings keine geringe
Meisterleistung, wenn man bedenkt, dass sie aus Flüchtlingen aus anderen
Parteien besteht (einige würden Verräter sagen), die ihren Karren an Ariel
Sharons rasende Pferde anhängten, als er den Likud verließ. Die meisten
Kadima-Führer verließen den Likud mit ihm, und wie Livni selbst, stecken sie tief in der Likud-Ideologie. Einige andere kamen
von der Labor-Partei und folgten Arm in Arm dem politisch Prostituierten Shimon
Peres.
Diese zufällige Sammlung
frustrierter Politiker hat mehrmals versucht, Benjamin Netanyahus Flanke zu
überholen. Ihre Mitglieder haben fast alle
rassistischen Gesetzesentwürfe während der letzten Monate unterzeichnet,
einschließlich des berüchtigten „Boykott-Gesetzes“. (Als
die öffentliche Meinung rebellierte, zogen sie ihre Unterschrift zurück, und
einige stimmten sogar dagegen.)
Wie ist diese Partei zur größten in der Knesset
geworden – mit einem Sitz mehr als der Likud. Für linke Wähler, die von Ehud
Baraks Labor-Partei angeekelt waren und die winzige Meretz ignorierten, schien
es die einzige Chance zu sein, Netanyahu und Lieberman zu stoppen. Aber das mag sich bald ändern.
DIE RIESIGE Protest-Demonstration vom letzten Samstag war die größte in
Israels Geschichte (einschließlich der legendären 400 000-Demo nach dem Sabra-
und Shatila-Massaker, deren wirkliche Zahl wohl etwas weniger war). Es mag der Beginn einer neuen Ära sein.
Es ist unmöglich, die reine Energie, die von dieser Menge ausging, zu
beschreiben, die vor allem aus 20 bis 30-Jährigen bestand. Wie das
Flügelschlagen eines riesigen Adlers über uns konnte
man die Geschichte spüren. Es war eine jubelnde Masse, die sich ihrer Macht
bewusst war.
Die Demonstranten waren eifrig dabei, „Politik“ zu
meiden – was mich an Perikles’ Worte von vor 2500 Jahren erinnerte, dass
„gerade weil du kein Interesse an Politik hast, dies nicht bedeutet, dass die
Politik kein Interesse an dir hat.“
Die Demonstration war natürlich hoch politisch
– direkt gegen Netanyahu, die Regierung und die ganze unsoziale Ordnung
gerichtet. Während ich in der dichten Menge ging, schaute ich mich um, um nach Kippa-tragenden Demonstranten zu schauen
und fand keinen einzigen. Der ganze religiöse Sektor, der rechte Flügel, der
die Gruppe der Siedler und Dichters Gesetz unterstützt, war offenkundig
abwesend, während der orientalisch-jüdische Sektor, die traditionelle Basis des
Likud, reichlich vertreten war.
Der Massenprotest verändert die Agenda Israels. Ich hoffe, dass die
Folge davon das Auftauchen einer neuen Partei sein wird, die die
Zusammensetzung der Knesset so verändern wird, dass man sie nicht
wiedererkennt. Selbst ein neuer Krieg oder eine andere „Sicherheitsmaßnahme“ kann dies nicht verhindern.
Es wird sicher das Ende von
Kadima sein, und wenige werden ihr nachtrauern. Es würde
auch bye-bye für Dichter bedeuten, den Geheimpolizei-Poeten.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Quelle: radio-utopie.de
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