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Drachenwut's Politikblog
Politische Korrektheit
Politische Korrektheit (dengl. pollitickel koräktnäss) ist heutzutage,
dass logisch-auf sich beruhende Gegenteil von faktischer Korrektheit. |
Die Niemandsregierung
Der
Modellcharakter der Technokratien Monti und Papademos
Die
«technischen» Regierungen in Griechenland und Italien sind ein Experiment mit
Modellcharakter. Amador Fernández-Savater, ein spanischer Journalist und
Chronist der spanischen Protestbewegung, ortet in diesen «Niemandsregierungen»
eine anonyme, kaum angreifbare bürokratische Macht im Dienste der
Finanzindustrie. In seinen «Notizen eines Albtraums» schildert er die Gefahren,
die sich aus dieser Regentschaft der Technokraten ergeben können. Damit greift
Savater als einer von wenigen die politische Zäsur auf, deren Zeuge wir in
Europa geworden sein könnten: eines großen Schrittes hin zur Marginalisierung
der Politik, der Entmachtung der Parlamente und damit zur Entdemokratisierung
in Europa. Doch die umstrittene Occupy-Bewegung beinhaltet für ihn die
angemessenen Antworten auf den Bankrott der Politik – eine optimistische
Einschätzung. Übersetzung: Walter Beutler
Wir erachten eine
technokratische Regierung der nationalen Einheit, zusammengesetzt aus den
linken und rechten Kräften des politischen Spektrums und angeführt von Leuten
des Vertrauens, als beste Möglichkeit, um die Reformen zu Ende zu führen und
das Vertrauen der Investoren aufrecht zu erhalten. (…) Im aktuellen Kampf der
modernen, reifen Demokratien gegen die schwere Krise der Staatsschulden stellen
technokratische, ‹apolitische› Regierungen eine dringliche Alternative dar. Im
gleichen Maß, wie das öffentliche Vertrauen in die Politiker schwindet,
verstärkt sich der Widerstand gegen die Strukturreformen, und die Parteien
haben Angst vor den Kosequenzen an der Urne, wenn sie schmerzhafte Reformen
durchführen. Tina Fordham, Citigroup
Täglich geschehen tausend
Dinge. Doch wie erkennt man, welches die Zeichen des kommenden Wandels sind?
Was sind Spuren oder Echos der Vergangenheit? Und was kündigt entscheidende
soziale Tendenzen an? Wie wissen wir, ob wir eine historische Schwelle überschritten
haben? Dies habe ich mich in diesen Tagen gefragt, als ich über die
«technischen Regierungen» nachdachte, die in Griechenland und Italien
installiert wurden. Ich betrachte diese als äusserst schlechte Vorzeichen, als
experimentelles Muster, das bald, sehr bald wiederholt werden könnte, als
Prototyp.
Tatsächlich braucht es zurzeit keine besondere Phantasie, um sich eine
technische Regierung auf europäischer Ebene vorzustellen, die sich als einzig
mögliche Alternative zu einem unmittelbar drohenden totalen Crash anbietet und
rechtfertigt – oder gar als bestmögliche Sachwalterin einer bereits in Gang
befindlichen Katastrophe. Eine «Übergangsregierung» ohne Politiker dazwischen,
vollständig zusammengesetzt aus Experten und Bevollmächtigten, die wissen, was
zu tun ist, und keine Angst haben, dies auch zu Ende zu führen – und auch ohne
noch so geringe Bindung an die Staatsbürgerschaft. – Ein Albtraum?
Griechenland und Italien wären dafür ein Zukunftslabor. Und das
Experiment läuft nicht schlecht. Erste Erkenntnis: Es lässt sich realisieren.
Die beiden an militärischen Kalorien armen Staatsstreiche haben in der
«demokratischen» öffentlichen Meinung keinen Aufruhr hervorgerufen. So scheint
es mir zumindest. Niemand hat Monti oder Papademos gewählt. Niemand hat über
die Programme abgestimmt, die umgesetzt werden sollen. Doch die Parlamente
haben beide Regierungen bestätigt. Und generell ist eine Stimmung der
Resignation festzustellen, zumindest kein Enthusiasmus. Warum nicht? Wenn das,
was es gibt, das einzige ist, was man haben kann, so soll es zumindest jemand
Fähiges durchführen, jemand ohne Extravaganzen – und der etwas vom Rechnen
versteht. Oder etwa nicht?
Hannah Arendt nannte die Herrschaft der Bürokratie eine
«Niemandsregierung» und sagte dazu: «Das ist nicht notwendigerweise eine
Nichtregierung. Unter gewissen Umständen kann daraus sogar eine der grausamsten
und tyrannischsten Varianten einer Regierung hervorgehen.» Weshalb? Ganz
einfach weil «wir niemanden dafür verantwortlich machen können. Es gibt keinen
echten Urheber der Handlungen und Ereignisse. Sie überwältigen uns einfach.»
Es folgen nun ein paar Überlegungen und Erklärungen, die mir mehr oder
weniger ungeordnet durch den Kopf gehen, wenn ich an die technischen
Regierungen von Monti und Papademos denke. – Notizen eines Albtraums.
Die
Niemandsregierung ist eine Folge der Krise der politischen Vertretung
Die Abwesenheit von
Politikern erleichtert uns die Dinge. Mario
Monti
Papademos war nie in die
Politik verwickelt. Er weiss, was zu tun ist. Thanos Papasavvas,
Leiter von Investec Asset Management
Das globalisierte Umfeld hat die klassischen Merkmale der Souveränität
der Nationalstaaten zerfetzt, Kennzeichen wie etwa die eigenen Grenzen, das
eigene Geld, die Verteidigung, die Kultur usw. Die Staaten beschränken sich
immer mehr darauf, in einem konkreten Territorium die Notwendigkeiten der
globalen Ökonomie zu bedienen. Links und rechts im parlamentarischen Spektrum
werden in der Regel dieselben Interessen, dieselben Ideen über Wachstum und
Wettbewerbsfähigkeit verteidigt. Die Institutionen sind für die
Bürgerbeteiligung kaum durchlässig. Auf Bürgerebene sind all diese
Feststellungen Binsenweisheiten, offene Geheimnisse. Nicht Systemgegner,
sondern die unterschiedlichsten Menschen gehen auf die Strasse und rufen: «Sie
nennen es Demokratie, obschon sie es nicht ist», und verschwören sich im
Internet, um das Wahlsystem zu hacken.
Technische Regierungen passen bestens zu diesem sozialen Hintergrund:
zur verbreiteten Ablehnung der aktuellen Politik unserer Politiker, zur
vollständigen Blockade zwischen Links und Rechts, zum allgemeinen Überdruss
gegenüber der Korruption und gegenüber Politstars des Typs Berlusconi. Monti
und Papademos kündigen postpolitische und postideologische Regierungen an, rein
technisch geführte Regierungen. Sie selber sind nur Masken, wie jene von
Anonymous, hinter denen jedoch niemand aus Fleisch und Blut steckt, sondern nur
die abstrakte und unpersönliche Macht der Finanzmärkte. Es sind weder Linke
noch Rechte. In Tat und Wahrheit führen sie Regierungen der nationalen Einheit
zwischen Links und Rechts an. Es sind keine Politiker und schon gar keine
Politstars, sondern einfache Geschäftsführer, Ingenieure, Experten. Sie sind
nicht durch bornierte Treue an eine Ideologie gebunden, nicht an die Leute, die
sie gewählt haben, nicht an persönliche Ambitionen. Sie streben danach, das
Wasser der Politikverdrossenheit auf ihre Mühlen zu lenken. Sie sind die
finstere Kehrseite der Krise der politischen Vertretung.
Die Niemandsregierung: eine rationale
Regierung
Monti verspricht letztlich,
ein sehr viel normalerer, ‹langweiligerer› Politiker als Berlusconi zu sein.
Doch was von ihm erwartet wird, sind Zuverlässigkeit und Effizienz. Das Fest
ist beendet. La Vanguardia
Fünf Worte werden das
Programm von Monti charakterisieren: Wirksamkeit, Dringlichkeit, Wachstum,
Ernsthaftigkeit und Fairness. Paso a paso
Mario Monti wird «der Professor» genannt. Er wie auch Papademos sprechen
einzig von Effizienz in der Amtsführung. Beide versichern, nicht an eine Ideologie
gebunden zu sein. Sie führen nur aus, «was getan werden muss». Was sein muss.
Nach einer langen, ehrwürdigen philosophischen Tradition, die von Platon
bis Kant reicht, ist das «freie» Handeln ein Handeln «aus Pflicht», das heisst
«in notwendiger Weise». Die platonische Theorie spricht von einer «Regierung
der Philosophie»: eine Regierung der universellen, notwendigen Ideen, in der
getan werden muss, was rational und richtig ist, unabhängig von Meinungen und
Wünschen. Die kantische Theorie spricht von einem «freien Agenten», d.h. von
einem Agenten, der «aus Pflicht» handelt, also «rational». Die
Niemandsregierung tritt wie eine technische, instrumentelle Regierung in
Erscheinung, wie die reine Anwendung wirtschaftswissenschaftlicher Wahrheiten,
eine solide Regierung, insofern sie nicht aus Vorurteilen oder Privatinteressen
heraus handelt oder entscheidet, sondern «interesselos». Eine effiziente
Regierung, in der jene kommandieren, die das nötige Wissen haben, nicht jene,
die in den Massenmedien am meisten schillern oder die den Leuten in den
Korridoren der Macht ein Bein stellen.
Die Niemandsregierung ist
die tyrannischste aller Regierungen, da man niemandem die Rechnungen für ihr
Handeln servieren kann (…) es ist unmöglich, den Verantwortlichen auszumachen
oder den Feind zu identifizieren. Hannah Arendt
Wer der Niemandsregierung nicht zustimmt, ist kein Gegner mit Vernunft
oder ehrwürdigen Absichten. Er kann nur ein Verrückter oder Stümper sein. Denn
nur ein Verrückter oder Stümper kämpft gegen die Schwerkraft. Ebenso wären es
Verrückte oder Stümper, welche die Meinung des Volkes über die durchzuführende
Politik einholen wollten – wie wenn über die Richtigkeit einer mathematischen
Formel eine Mehrheit befinden könnte. «Was wissen denn die Leute darvon, was
für sie hilfreich ist?» Was die Leute sagen, kann nicht mehr als Geraune oder
Getobe sein. Es ist unnütz, absurd und in hohem Masse verderblich, ihnen
zuzuhören.
Hingegen entspricht die Vernunft der Niemandsregierung der «Intelligenz
des Notwendigen», indem sie die Gesetze entziffert, die die Welt beherrschen,
und ihr Handeln danach ausrichtet. Allerdings sind das ganz andere Gesetze als
jene, an die Platon und Kant dachten. Der kategorische Imperativ von Monti und
Papademos ist schlicht der Gehorsam genüber den Notwendigkeiten und Forderungen
von Goldmann Sachs und den Finanzmärkten. Dies ist heute unsere Schwerkraft.
Die Niemandsregierung als Schutzmacht
Werden wir davonkommen? Ja,
natürlich. Corrado Passera, Superminister für Entwicklung, Infrastruktur und
Transport
Gehen wir ins Rennen! Mario Monti
Um Italien zu retten, müssen wir auf
Glaubwürdigkeit und Verantwortung setzen. Und man muss mit Wahlen vorsichtig
umgehen. Franco Frattini, Aussenminister
Die Niemandsregierung verspricht, uns vor der Katastrophe zu bewahren. Der Meteor der Krise rast
unaufhaltsam auf die Erde zu. Die Medien verkünden, dass
sein Einschlag unmittelbar bevorsteht. Das Fussvolk starrt mit offenem Mund in
den Himmel. Einzig eine Handvoll entschlossener Helden weiss, was vor sich
geht, und handelt entsprechend. Zweifellos können sie uns nicht alle retten. Es
gibt nun mal solche, die nicht so schnell rennen. Doch wer weiss, vielleicht
können sie mich retten. Man muss Vertrauen haben …
Die Rettungsmacht rechtfertigt sich nicht mehr mit diesen oder jenen
Werten, die es zu verteidigen gilt – etwa die Demokratie oder ähnliches –,
sondern mit unserem schlichten und reinen Überleben als Geschlecht. Sie tut das
als pastorale Macht, die wacht und dafür garantiert, dass wir als Herde
erhalten bleiben. Sie tut es auch als medizinische Macht: Wenn du dich dagegen
auflehnst, unterschreibst du damit dein eigenes Todesurteil. Ebenso tut sie es
als eine von der göttlichen Vorsehung bestimmte Macht, wie der französische
Philosoph Maurice Blanchot erklärt: «Unser Schicksal ist nun an der Macht –
nicht eine historisch bemerkenswerte Person, sondern eine Macht, die über der
Person steht, eine Kraft der höchsten Werte. Nennen wir sie ‹die Schutzmacht›,
aber nicht im Sinne eines personifizierten Herrschers, sondern im Sinne von
Herrschaft als solcher, insofern sie in sich alle Möglichkeiten des Schicksals
vereint.» Die technische Regierung ist keine Diktatur, keine personale
tyrannische Macht: «Ein Diktator defiliert ohne Unterbruch. Er spricht nicht,
er schreit. Sein Wort hat die Gewalt eines Schreies, des lateinischen dictare,
der Repetition. [Die Schutzmacht] tritt auf – allerdings aus Pflicht. Sogar
wenn sie auftritt, erscheint sie wie ihrer eigenen Gegenwart fremd. Sie ist in
sich gekehrt. Sie spricht, aber im Geheimen …» Gegenüber der belusconianischen
Show das diskrete «Auftreten aus Pflicht» des Professors …
Blanchot weist ferner darauf hin, dass die Schutzmacht im Tausch für die
gebotene Sicherheit jeweils einen «politischen Tod» verlangt. Ihre Macht muss
unbestreitbar sein. Alle Möglichkeiten des Dissenses – eingeschlossen des
Vorwurfs, selbst Komplize der Katastrophe zu sein – müssen von vornherein
ausgeschlossen werden. Wir delegieren an den Herrscher all unsere Fähigkeiten –
des Ausdrucks, des Denkens und des Handelns – und die Politik wird geächtet.
Denn in Tat und Wahrheit treibt die Niemandsregierung keine Politik. Und sie
handelt auch nicht, ja, entscheidet nicht mal. Sie verwaltet nur. Das heisst,
sie reguliert nach ihren Möglichkeiten eine Macht, die sie selbst übersteigt
und absoluten Vorrang hat: eine hyperkomplexe Maschine, die von ökonomischen
Interessen angetrieben ist, eine unmenschliche Macht, die man nicht bremsen,
handhaben oder verändern, sondern ihr nur auf bestmögliche Weise gehorchen
kann. Es ist die Macht des Automatischen, Notwendigen. Es ist unser Schicksal.
Der Tanz der Niemande gegen die
Niemandsregierung
Wie aus diesem politischen Tod aufwachen? Die hehren Diskurse, die
unsere Demokratien noch mit der freien, freiwilligen und organisierten
politischen Vernunft gleichsetzen, klingen immer mehr wie ein schlechter Witz.
Doch es gibt sie noch, jene, die angesichts der Bedrohung durch die Niemandsregierung
empfehlen, wir sollten weiter in das Parteiensystem, in die politische
Vertretung, die Links-Rechts-Achse vertrauen. Mehr noch: Es gibt Stimmen, die
mit voller Überzeugung der «anonymen Revolution», die sich zurzeit weltweit
ausbreitet, vorwerfen, sie hätte der Niemandsregierung den Weg geebnet. «Schaut! Das ist das Ergebnis
eures ‹Sie vertreten uns nicht›.»
In Tat und Wahrheit ist es gerade umgekehrt. Indem sie alle Macht den
Finanzmärkten übergeben haben, indem sie sich gegen jedes Fünkchen
Bürgerbeteiligung abgeschirmt haben und zu reinen Sachwaltern des
Unausweichlichen und Notwendigen geworden sind, haben die Politiker ihr eigenes
Grab geschaufelt. Wenn sie dran kommen, die Papandreus, Berlusconis und Rajoys,
können sie sich beklagen, wie immer sie wollen: Die Mächte, an die sie sich
hielten, haben sich plötzlich dazu entschieden, auf ihre Dienste zu verzichten
und an ihre Stelle andere, vertrauenswürdigere Ingenieure zu setzen. Punkt!
Die einzige Möglichkeit, aus dem politischen Tod aufzuwachen, ist, was
Hannah Arendt die «Aktion» nannte. Agieren heisst, die Vorherrschaft des
Automatischen durchbrechen, und ist das Gegenteil von Gehorchen oder
Repetieren. Wir verinnerlichen auch im persönlichen Leben die Automatismen,
wenn wir tun, was wir tun sollen, wenn wir sehen, was wir sehen sollen, wenn
wir sagen, was man sagen soll, und wenn wir denken, was zu denken
vorgeschrieben ist. Arendt nannte dies «das Gehabe»: ein normalisiertes
Verhalten, das vorhersehbar und voraussagbar ist. Wenn wir hingegen agieren,
«kommen wir mit Gleichen zusammen und beginnen etwas Neues». Wir treten aus der
Isolation und Machtlosigkeit heraus und werden fähig.
Die «Politik aller» von Bewegungen wie 15-M oder Occupy ist weder das
Gegenstück noch das Symmetrische zur Niemandsregierung: Diese Bewegungen
vertrauen nicht dem Kommando derjenigen, die wissen, sondern gehen davon aus,
dass wir alle denken können. Sie haben kein Gesicht – genau aus dem Grund,
damit alle und jedes einzelne der vielen Gesichter hineinpassen. Sie verwalten
nicht, was vorhanden ist, sondern finden im Kollektiv neue Antworten auf
gemeinsame Probleme.
Vielfältigkeit,
Erfindergeist, Denken: Das ist der Tanz der Niemande gegen die
Niemandsregierung.
Originaltext auf dem Blog von Amador
Fernández-Savater, deutsche Übersetzung im
Original auf dem Blog von Walter
Beutler
Quelle: le-bohemien
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