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Drachenwut's Politikblog

Politische Korrektheit

Politische Korrektheit (dengl. pollitickel koräktnäss) ist heutzutage, dass logisch-auf sich beruhende Gegenteil von faktischer Korrektheit.
Oder einfacher,
eine Worthülse um Lüge, Meinungsmache, Maulkorberlasse, faktische Verdrehungen, Verfälschung und Meinungs-Monopolismus zu verschleiern.

 

“Empörte Ökonomen” »Manifeste d’économistes atterrés«

Von Gerhard Rinnberger

Vorwort des Übersetzers:

Vor knapp einem Jahr ist bei Économistes Aterrés das »Manifeste d’économistes atterrés« erschienen. Leider gibt es bis heute keine deutsche Übersetzung.
Ich habe mich daher entschlossen, meine VWL-Kenntnisse ein wenig aufzufrischen und dieses Manifest zu übersetzen. Mangels Französischkenntnissen diente dabei die englische Fassung als Vorlage.
Wörtlich übersetzt müsste der Artikel eher „entsetzte Ökonomen“ heissen, ich habe aber bewußt auf den Titel der Streitschrift von Stéphane Hessel zurückgegriffen, um einen Bezug zum politischen Eiertanz der etablierten Parteien herzustellen.

Dies ist der Auftakt zu einer zehnteiligen Reihe zu populären volkswirtschaftlichen Fehlannahmen, die von einer Gruppe französischer Ökonomen in ihrem Manifest von 2010 widerlegt werden sollen.

Vorwort und Prolog

Fehlbehauptung 1: Finanzmärkte sind effizient

Fehlbehauptung 2: Finanzmärkte tragen zum Wirtschaftswachstum bei

Fehlbehauptung 3: Märkte schätzen die Kreditwürdigkeit von Staaten korrekt ein

Fehlbehauptung 4:  Der Anstieg der Staatsverschuldung rührt von übermässigen Ausgaben her

Fehlbehauptung 5: Staatsausgaben müssen begrenzt werden, um die Staatsverschuldung zu senken

Fehlbehauptung 6: Staatsverschuldung verschiebt die Last unserer Maßlosigkeit auf unsere Kindeskinder

Fehlbehauptung 7: Wir müssen die Finanzmärkte beruhigen, um die Staatsverschuldung zu finanzieren

Fehlbehauptung 8: Die europäische Union schützt das Europäische Sozialmodell

Fehlbehauptung 9: Der Euro ist ein Schutzschild gegen die Krise

Fehlbehauptung 10: Die Griechenlandkrise war das Sprungbrett zu einer europäischen Wirtschaftsregierung und einem wirklichen europäischen Sozialpakt

Vorwort und Prolog

Einführung

Die Erholung der Weltwirtschaft, die durch die massive Infusion öffentlicher Ausgaben in die Weltwirtschaft (von den Vereinigten Staaten bis China) ermöglicht wurde, ist zerbrechlich aber real. Ein Kontinent hinkt hinterher: Europa. Zum Wachstumskurs zurückzufinden, hat keinen Vorrang mehr in seiner Politik. Europa hat einen anderen Weg eingeschlagen: Den Kampf gegen die Staatsverschuldung.

Gewiss ist die Neuverschuldung in der EU hoch – durchschnittlich 7% im Jahr 2010 – aber sie liegt deutlich niedriger als die 11% der Vereinigten Staaten. Während amerikanische Bundesstaaten, deren ökonomisches Gewicht größer als das von Griechenland ist, wie etwa Kalifornien, praktisch bankrott sind, haben die Finanzmärkte sich entschieden, auf die Umschuldungsmechanismen europäischer Staaten, insbesondere der des Südens zu spekulieren. In der Tat ist Europa in seiner eigenen institutionellen Falle gefangen: Staaten müssen Geld von privaten Finanzinstituten leihen, welche ihrerseits billiges Geld von der EZB erhalten. Als Folge davon halten die Finanzmärkte die Schlüsselstellung in der Versorgung der Staaten mit Geldmitteln. In diesem Kontext führt das Fehlen einer europäischen Solidarität zu Spekulation, umso mehr, als das Verhalten der Rating-Agenturen das Misstrauen verstärkt.

Es bedurfte der Herabstufung Griechenlands durch Moody’s am 15. Juni, damit die europäischen Führer wieder den Begriff ‘irrational’ benutzten, ein Wort, das sie schon zu Beginn der Subprime-Krise verwendeten. Gleichermaßen entdecken wir jetzt, daß Spanien viel stärker durch die Zerbrechlichkeit seines Wachstumsmodells sowie seines Bankensystems bedroht ist, als durch seine Staatsverschuldung.

Um die „Märkte zu beruhigen“ wurde ein Stabilitätsfonds für den Euro improvisiert, drastische und unüberlegte Pläne, die öffentlichen Ausgaben zu beschneiden, wurden in ganz Europa eingeführt. Angestellte im Staatsdienst sind als erstes davon betroffen, auch in Frankreich, wo die Zunahme ihrer Rentenbeiträge eine versteckte Kürzung ihrer Bezüge darstellt. Die Anzahl der im öffentlichen Sektor Beschäftigten sinkt überall und bedroht die Versorgung mit öffentlichen Dienstleistungen. Sozialleistungen werden von den Niederlanden bis Portugal rigoros gestrichen, wie auch in Frankreich mit der aktuellen Pensionsreform. Die Arbeitslosigkeit und mangelnde Arbeitsplatzsicherheit werden in den folgenden Jahren zwangsläufig ansteigen. Diese Maßnahmen sind aus politischer und sozialer Perspektive und selbst in einem streng ökonomischen Sinn unverantwortlich.

Diese Politik, die vorübergehend die Spekulation eingeschränkt hat, hat schon zu sehr negativen sozialen Folgen in vielen europäischen Ländern geführt. Betroffen sind vor allem die Jungen, die Arbeitnehmer und die sozial Benachteiligten. Dies wird eines Tages in Europa Spannungen schüren und den europäischen Einigungsprozess selbst bedrohen, der mehr ist als ein rein ökonomisches Projekt. Die Wirtschaft sollte dem friedlichen und gemeinsamen Aufbau eines demokratischen Kontinents dienen. Stattdessen wurde überall eine Diktatur des Marktes eingeführt. Im Falle von Portugal, Spanien und Griechenland sind dies Länder, die selbst in den frühen 1970er Jahren – also vor nicht einmal 40 Jahren – noch Diktaturen waren.

Egal, ob man es als „Wunsch zur Beruhigung der Märkte“ seitens verängstigter Regierungen oder als Vorwand, ideologiegetriebene Alternativen aufzuzwingen, interpretiert, eine derartige Unterwerfung unter eine Diktatur ist nicht akzeptabel, gerade weil sie ihre ökonomische Unwirksamkeit und ihr zerstörerisches Potential sowohl in politischer als auch sozialer Ausprägung bewiesen hat. In Frankreich und Europa muss ein echter demokratischer Diskurs wirtschaftspolitischer Alternativen eröffnet werden. Die meisten Ökonomen, die sich an der öffentlichen Debatte beteiligen, tun dies, um die Unterwerfung der Politik unter die Anforderung der Finanzmärkte zu rechtfertigen oder zu begründen.

Zugegebenermaßen mussten alle Regierungen keynesianische Anreizprogramme improvisieren und manchmal sogar Banken vorübergehend verstaatlichen. Aber sie möchten diese Episode schnell zu Ende bringen. Das neoliberale Paradigma ist immer noch – trotz aller offensichtlichen Fehler – das einzig als gerechtfertigt anerkannte. Aufgrund der Annahme effizienter Kapitalmärkte plädiert es für eine Reduzierung der Staatsausgaben, der Privatisierung öffentlicher Güter, Flexibilisierung auf dem Arbeitsmarkt, Liberalisierung von Handel, Finanzdienstleistung und Kapitalbewegungen sowie eine Ausweitung des Wettbewerbs zu jeder Zeit und an jedem Ort.

Als Ökonomen sind wir darüber entsetzt, daß diese Maßnahmen immer noch auf der Tagesordnung stehen und ihre theoretischen Grundlagen nicht hinterfragt werden. Die Argumente, welche über dreissig Jahre hinweg angeführt wurden, die Richtlinien europäischer Wirtschaftspolitik zu begleiten, wurden von den Fakten untergraben. Die Krise hat die dogmatische und unbegründete Natur der vermeintlich „offensichtlichen Fakten“ bloßgestellt, die von den Verantwortlichen in der Politik und ihren Beratern bis zum Erbrechen wiederholt werden. Egal ob es Effizienz oder Rationalität der Finanzmärkte betrifft, den Zwang zur Kürzung von Ausgaben um Schulden zu begrenzen oder zur Stärkung des „Stabilitätspaktes“, all diese „offensichtlichen Fakten“ müssen untersucht und die vielfältigen wirtschaftspolitischen Handlungsalternativen aufgezeigt werden. Alternativen sind möglich und wünschenswert, vorausgesetzt, die Schlinge der Finanzindustrie um den Hals der Politik wird gelockert.

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Fehlbehauptung  1: Finanzmärkte sind effizient

Heutzutage ist eine Tatsache für alle Beobachter offensichtlich: Finanzmärkte spielen die entscheidende Rolle im Funktionieren der Wirtschaft. Dies ist das Ergebnis einer langen Entwicklung, die in den späten siebziger Jahren begonnen hat. Wie auch immer diese Entwicklung erfasst wird, stellt sie sowohl quantitativ als auch qualitativ einen klaren Bruch mit vorangegangenen Dekaden dar. Unter dem Druck der Finanzmärkte hat sich die globale Regulierung des Kapitalismus grundlegend geändert, indem sich eine neue Form des Kapitalismus bildete, welche manche als „patrimonialen Kapitalismus“, „Finanzkapitalismus“ oder „neoliberalen Kapitalismus“ bezeichnen.

Die theoretische Rechtfertigung für diese Veränderung ist die Hypothese der Informationseffizienz der Finanzmärkte (oder Effizienzmarkthypothese). Gemäß dieser Hypothese ist es wichtig, die Finanzmärkte zu fördern, um sicherzustellen, daß diese so frei wie möglich operieren können, weil sie den einzigen Mechanismus für die effiziente Kapitalallokation darstellen. Die in den letzten dreissig Jahren beharrlich verfolgten Strategien sind mit dieser Empfehlung konsistent. Ihr Ziel war ein globaler integrierter Finanzmarkt, in dem alle Beteiligten (Unternehmen, Haushalte, Staaten, Finanzinstitutionen) alle Formen von Sicherheiten (Aktien, Anleihen, Verbindlichkeiten, Derivate, Währungen) für alle Fälligkeiten (lang-, mittel-, kurzfristig) austauschen konnten. Finanzmärkte ähnelten zusehends dem „reibungsfreien“ Markt aus dem Lehrbuch: der ökonomische Diskurs wurde Wirklichkeit. So wie die Märkte im landläufigen Sinn zunehmend „perfekter“ wurden, glaubten Analysten, daß das Finanzsystem viel stabiler als in der Vergangenheit sei. Die “Great Moderation”, diese Periode wirtschaftlichen Wachstums ohne Lohnsteigerungen, welche die USA von 1990 bis 2007 erlebten, schien diese Ansicht zu bekräftigen.

Sogar jetzt ist man in der G20 der Ansicht, daß die Finanzmärkte der beste Mechanismus zur Bereitstellung von Kapital sind. Die Vorrangstellung und Unversehrtheit der Finanzmärkte bleiben die höchsten Ziele, die von den neuen finanzpolitischen Reglementierungen eingeschlagen wurden. Die Krise wird nicht als unausweichliches Ergebnis der Logik deregulierter Märkte verstanden, sondern als Effekt der Unredlichkeit und Verantwortungslosigkeit einiger Finanzmarktakteure, die von den Regierungen nur ungenügend beaufsichtigt wurden.

Jedoch hat die Krise gezeigt, daß Märkte nicht effizient und dass sie unfähig sind, für eine effiziente Kapitalallokation zu sorgen. Die Konsequenzen aus dieser Tatsache hinsichtlich Regulierung und Wirtschaftspolitik sind gewaltig. Die Effizienztheorie beruht auf der Vorstellung, dass Investoren die zuverlässigsten Informationen über Projekte, die im Finanzierungswettbewerb stehen, ermitteln und finden. Gemäß dieser Theorie reflektiert der Preis, der sich auf dem Markt bildet, die Einschätzung der Investoren und stellt alle verfügbare Information dar: Es ist daher eine gute Annäherung an den wahren Wert der Sicherheit. Dieser Wert soll all die Informationen zusammenfassen, die benötigt werden um wirtschaftliche Aktivitäten zu leiten, wie auch das soziale Leben. Auf diese Weise wird Kapital in die profitablesten Projekte investiert und lässt die am wenigsten effizienten stehen. Das ist die zentrale Idee dieser Theorie: Wettbewerb in Finanzen gebiert faire Preise, die ihrerseits verlässliche Signale für Investoren und ein effektiver Maßstab für wirtschaftliche Entwicklungen sind.

Die Krise bestätigte jedoch verschiedene kritische Arbeiten, die einen Schatten auf diese Vorstellung warfen. Wettbewerb im Finanzsektor generiert nicht notwendigerweise faire Preise. Schlimmer noch, Wettbewerb wirkt oft destabilisierend und führt zu überzogenen Preisen und irrationalen Schwankungen, den Finanzblasen.

Der größte Mangel in der Theorie effizienter Finanzmärkte ist der, daß sie die Theorie, die für normale Güter und Dienstleistungen Anwendung findet, auf die Finanzmärkte transponiert. Auf den Güter- und Dienstleistungsmärkten ist der Wettbewerb größtenteils selbstregulierend, gemäß dem Gesetz von Angebot und Nachfrage: wenn der Preis eines Gutes steigt, erhöhen die Produzenten ihr Angebot und Käufer senken ihre Nachfrage. In der Folge sinkt der Preis und pendelt sich auf seinem neuen Gleichgewichtslevel ein. Mit anderen Worten, wenn der Preis eines Gutes steigt, neigen Rückstellkräfte dazu, diese Bewegung zu erschweren und dieses Anwachsen umzukehren. Der Wettbewerb produziert das, was man als ein „negatives Feedback“ bezeichnet, d.h. die Rückstellkraft, welche in die Gegenrichtung der ursprünglichen Auslenkung geht. Die Vorstellung von Effizienz entspringt von einer unmittelbaren Umsetzung dieses Mechanismus’ auf die Finanzmärkte.

Für Letztere ist die Ausgangssituation jedoch eine ganz andere. Wenn der Preis steigt, wird im Allgemeinen kein Sinken der Nachfrage beobachtet, sondern vielmehr ein Ansteigen. Gewiss bedeutet ein höherer Preis einen höheren Ertrag für den, der einen Vermögenstitel besitzt. Der Preisanstieg zieht daher neue Käufer an, die den ursprünglichen Anstieg weiter verstärken. Das Versprechen von Boni hält Händler dazu an, diesen Trend weiter zu verfestigen. Dies hält solange an. bis eine Störung, die unvorhersagbar aber unvermeidlich ist, eintritt. Diese bewirkt eine Umkehrung der Erwartungen und den Crash. Dieses Herdenphänomen ist ein Prozess von positiven Feedbacks, die das ursprüngliche Ungleichgewicht verschlimmern. Das sind die Ingredienzien für eine Spekulationsblase: ein kumulierter Preisanstieg, der sich selbst nährt. Ein derartiger Prozess produziert keine gerechten Preise, sondern im Gegenteil unangemessene Preise.

Als Folge davon kann die Vormachtstellung, die die Finanzmärkte innehaben, nie zu irgendeiner Art von Effizienz führen. Schlimmer noch, es ist eine stete Quelle von Instabilität, wie es aus der ununterbrochenen Folge von Blasen, die wir in den letzten 20 Jahren beobachten, offensichtlich ist: Japan, Süd-Ost-Asien, Dot-Com, Emerging Markets, Immobilienblase, Verbriefungen. Die finanzielle Instabilität spiegelt sich in den gewaltigen Fluktuationen der Wechsel- und Aktienkurse wider, die offensichtlich keinen Bezug zu den ökonomischen Fundamentalindikatoren haben. Diese Instabilität, die im Finanzsektor entsteht, dringt in die Realwirtschaft auf vielfältige Weise ein.

Um die Ineffizienz und Instabilität der Finanzmärkte einzuschränken, schlagen wir folgende Maßnahmen vor:

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Fehlbehauptung 2: Finanzmärkte tragen zum Wirtschaftswachstum bei

Die Integration des Finanzsektors hat die Macht der Finanzmärkte massiv gestärkt, weil sie die Kapitalvermögen auf globalem Level vereinigt und zentralisiert hat. Sie bestimmt die Rentabilitätsnormen, die jede Form von Kapital benötigt. Die Idee dahinter war, daß Finanzmärkte die Banken bei der Finanzierung von Investitionen ersetzen sollen. Dieses Projekt ist allerdings gescheitert, da heute insgesamt gesehen die Unternehmen die Anleger finanzieren statt umgekehrt. Gleichwohl wurde der unternehmenspolitische Ordnungsrahmen (im Sinne von Corporate Governance) tiefgreifend umgewandelt, um den Vorgaben der Marktprofitabilität zu entsprechen. Mit dem Aufstieg des “Shareholder Value” hat sich eine neue Ansicht von Unternehmen und ihrem Management etabliert, indem das Unternehmen als Einheit, das den Ansprüchen der Anteilseigner genügen soll, wahrgenommen wurde. Die leitenden Mitarbeiter öffentlich gehandelter Unternehmen haben die vordringliche und ausschliessliche Aufgabe, dem Wunsch der Anteilseigner, sich selbst zu bereichern, zu entsprechen. Folgerichtig verhalten sie sich nicht mehr als Arbeitnehmer, da sie einen exzessiven Anstieg ihrer Einkommen wahrnehmen. Gemäß der Prinzipal-Agent-Theorie (Anm. d. Ü.: s. auch Agentur-Theorie) verschmelzen somit die Interessen der Manager mit denen der Anteilseigner.

Eine Eigenkapitalrendite (engl. ROE, Return on Equity) von 15% bis 25% hat sich auf Druck der Finanzmärkte bei Unternehmen und Mitarbeitern als Standard etabliert. Liquidität ist das Instrument dieser Macht, als sie es unzufriedenen Investoren erlaubt, jederzeit woanders hinzugehen. Angesichts dieser Übermacht werden sowohl die Interessen der Arbeitnehmer als auch die politische Souveränität an den Rand gedrängt. Dieses Ungleichgewicht führt zu wahnwitzigen Profitansprüchen, welche dann das Wirtschaftswachstum behindern und in einem steten Anwachsen der Einkommens-Ungleichverteilung münden. Erstens behindern die Rentabilitätsanforderungen massiv Investitionen: Je höher die erforderliche Ertragsrate, desto schwieriger ist es, wettbewerbsfähige Projekte zu finden, die diesen Ansprüchen genügen. Die Investitionsraten in Europa und den Vereinigten Staaten verharren auf einem historischen Tief. Zweitens üben diese Anforderungen einen Abwärtsdruck auf Löhne und Kaufkraft aus, was sich ungünstig auf die Nachfrage auswirkt. Die gleichzeitige Drosselung von Investitionen und Konsum führt zu niedrigem Wachstum und anhaltender Arbeitslosigkeit. Diesem Trend wurde in angelsächsischen Ländern durch eine zunehmende Verschuldung der Haushalte und Vermögensblasen, die fiktionalen Wohlstand schaffen, entgegengewirkt, das so erzielte Konsumwachstum ohne Lohnsteigerung führte schließlich zum Kollaps.

Um die negativen Auswirkungen der Finanzmärkte auf die Wirtschaft zu beseitigen, schlagen wir folgende drei Maßnahmen vor:

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Fehlbehauptung 3: Märkte schätzen die Kreditwürdigkeit von Staaten korrekt ein

Gemäß den Befürwortern der Effizienzmarkthypothese berücksichtigen Börsianer die objektive Lage öffentlicher Finanzen, wenn sie das Risiko bei der Aufnahme von Staatsanleihen einschätzen. Nehmen wir den Fall der griechischen Staatsverschuldung: Börsianer und politische Entscheidungsträger vertrauen ausschliesslich auf finanzielle Bewertungen, um die Lage zu beurteilen. Als nun der erforderliche Zinssatz für Griechenland auf über 10% anstieg, schloss jeder daraus, daß das Risiko eines Ausfalls hoch war: wenn Anleger einen derartigen Zinsaufschlag fordern, bedeutet das, daß diese Gefährdung in höchstem Maße gegeben ist.

Dies ist ein schwerwiegender Fehler, wenn man das wirkliche Wesen der Beurteilung durch die Finzmärkte versteht. Da dieser Markt gerade nicht effizient ist, generiert er sehr oft Preise, die von den wirtschaftlichen Fundamentaldaten losgelöst sind. Unter diesen Umständen ist es unvernünftig, zur Beurteilung der Lage nur auf die Einschätzung der Finanzmärkte zu vertrauen. Den Wert einer finanziellen Sicherung zu beurteilen, ist nicht vergleichbar mit dem Messen einer objektiven Größe, wie etwa dem Gewicht eines Gegenstands. Eine finanzielle Sicherheit ist ein Versprechen auf einen zukünftigen Ertrag: um diesen zu ermitteln, muss man voraussehen, wie diese Zukunft aussieht. Es ist eine Sache der Einschätzung und kein objektives Maß, denn zu einem bestimmten Zeitpunkt ist die Zukunft mitnichten vorherbestimmt. An den Börsen ist es das, was sich die Händler darunter vorstellen. Der Preis einer Vermögensanlage ist eine Schätzung, ein Glaube, eine Wette auf die Zukunft: Es gibt keine Garantie, daß die Einschätzung der Märkte in irgendeiner Form anderen Formen der Beurteilung überlegen ist.

Darüber hinaus ist die finanzielle Evaluation nicht neutral: sie beeinflusst das Objekt, das sie messen soll, sie initiiert und begründet die Zukunft, die sie sich ausmalt. Ratingagenturen spielen daher eine gewichtige Rolle bei der Bestimmung der Zinssätze auf den Anleihemärkten, indem sie höchst subjektive Noten vergeben, wenn sie nicht gar vom Wunsch getrieben sind, die Instabilität anzufachen – eine Quelle für Spekulationsgewinne. Wenn diese Agenturen das Rating eines Landes herabstufen, erhöhen sie den Zinssatz, den Börsianer fordern, um öffentliche Schuldverschreibungen dieses Staates zu erwerben, und erhöhen zugleich das Risiko einer Insolvenz, die sie vorhergesagt haben.

Um den Einfluß der Psychologie des Marktes auf die Finanzierung der Staaten zu verringern, schlagen wir folgende zwei Maßnahmen vor:

 

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Fehlbehauptung 4:  Der Anstieg der Staatsverschuldung rührt von übermässigen Ausgaben her

Michel Pébereau, einer der „Paten“ des französischen Bankensystems, beschrieb 2005 in einem offiziellen Ad-hoc-Bericht Frankreich als ein Land, das von seinen Schulden erdrückt und künfigen Generationen Opfer aufbürden würde, indem es sich auf unbesonne Sozialausgaben einlässt. Der sich immer stärker verschuldende Staat als der Vater, der übermäßig viel Alkohol trinkt: das ist die gängige Vorstellung, die von den meisten Leitartiklern verbreitet wird. Doch die jüngste Explosion der Staatsverschuldung in Europa und der Welt ist etwas völlig anderem geschuldet: den Rettungsplänen für den Finanzsektor und vorrangig der Rezession, die durch Banken und Finanzkrise seit 2008 verursacht wurde. Das durchschnittliche öffentliche Defizit im Euroraum lag 2007 bei nur 0,6% des Bruttoinlandsprodukts (BIP), aber durch die Krise ist es auf 7% im Jahr 2010 angestiegen. Im selben Zeitraum stieg die Staatsverschuldung von 66% auf 84% des BIP.

Der Anstieg der Staatsverschuldung war anfänglich in Frankreich, wie auch in vielen anderen europäischen Staaten, gemäßigt: sie stammt hauptsächlich nicht von einem Aufwärtstrend bei den öffentlichen Ausgaben – im Gegenteil, gemessen am Anteil des BIP  sind in der EU seit den frühen 1990er Jahren die öffentlichen Ausgaben stabil oder sinkend –, sondern von einem Einbruch der öffentlichen Einnahmen aufgrund schwachen Wirtschaftswachstums in diesem Zeitraum sowie der fiskalischen Konterrevolution, die von den meisten Regierungen in den letzten 25 Jahren durchgeführt wurde. Auf längere Sicht hat diese fiskalische Konterrevolution das Anschwellen der Schulden von einer Rezession zur nächsten stetig genährt. Ein neuerer Parlamentsreport aus Frankreich schätzt daher die Kosten der Steuererleichterungen, die zwischen 2000 und 2010 gewährt wurden, auf 100 Mrd. Euro. Hier sind noch nicht einmal die Freibeträge bei Sozialleistungen (30 Mrd.) und anderen Steuervergünstigungen miteingerechnet. Da eine Steuerharmonisierung nicht stattgefunden hat, haben sich die europäischen Staaten auf einen Steuerwettbewerb eingelassen, indem sie Körperschaftssteuern sowie Steuern auf hohe Einkommen und Vermögen senkten. Auch wenn die relativen Anteile der einzelnen Bestimmungsgrößen von Land zu Land variieren, ist der Anstieg der Staatsdefizite und Schuldenquoten, der sich fast überall in Europa in den letzten 30 Jahren vollzog, nicht vorrangig auf einen Anstieg der öffentlichen Ausgaben zurückzuführen. Diese Diagnose eröffnet offensichtlich ganz andere Gestaltungsspielräume als das Staatsausgaben-reduzieren-Mantra, das bis zum Erbrechen zur Reduzierung öffentlicher Defizite herangezogen wird.

Zur Wiederherstellung einer fundierten öffentlichen Diskussion über den Ursprung der Verschuldung, und demzufolge auch für die Wege, diese zu beseitigen, schlagen wir die folgende Maßnahme vor:

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Fehlbehauptung 5: Staatsausgaben müssen begrenzt werden, um die Staatsverschuldung zu senken

Selbst wenn eine Zunahme der Staatsverschuldung zumindest teilweise auf einen Anstieg der Staatsausgaben zurückzuführen wäre, wäre eine Ausgabenkürzung nicht zwangsläufig ein Teil der Lösung. Dies liegt daran, weil die Dynamik der öffentlichen Verschuldung nur sehr wenig mit der Verschuldung privater Haushalte gemeinsam hat: Makroökonomik ist nicht auf das Wirtschaften eines Haushalts reduzierbar. Die Dynamik der Schulden ganz allgemein hängt von verschieden Faktoren ab: Dem Umfang der Nettokreditaufnahme, aber auch dem Abstand zwischen Zinssatz und nominaler Wachstumsrate einer Volkswirtschaft.

Wenn letztere niedriger ist als das Zinsniveau, wird die Verschuldung automatisch wegen des „Schneeballeffekts“ ansteigen: die Summe der Zinszahlungen explodiert, ebenso wie die Gesamtverschuldung (einschliesslich der Zinszahlungen). Auf diese Weise resultierte die von Bérégovoy anfang der 1990er Jahre eingeführte und trotz der Rezession 1993-94 beibehaltene Politik des „starken Franc“ in einem über der Wachstumsrate liegenden Zinsniveau, was den Anstieg der französischen Staatsverschuldung in diesem Zeitraum erklärt. Derselbe Mechanismus verursachte auch den Anstieg der Staatsverschuldung in der ersten Hälfte der 1980er Jahre, als Konsequenz der neoliberalen Revolution und der Hochzinspolitik, angeführt von Ronald Reagan und Margaret Thatcher.

Die Rate des Wirtschaftswachstums als solche ist jedoch nicht unabhängig von den öffentlichen Ausgaben: kurzfristig hält das Vorhandensein stabiler öffentlicher Ausgaben den Umfang von Rezessionen in Grenzen (durch „automatische Stabilisierer“); langfristig regen öffentliche Investitionen und Ausgaben (in Bildung, Gesundheit, Forschung, Infrastruktur etc.) das Wachstum an. Es ist schlichtweg falsch zu behaupten, daß jedes Haushaltsdefizit zu einer Zunahme der Staatsverschuldung führt oder die Senkung des Defizits die Staatsverschuldung verringert. Wenn eine Senkung des Haushaltsdefizits sich lähmend auf die wirtschaftlichen Aktivitäten auswirkt, so führt dies sogar zu einer höheren Verschuldung. Neoliberale Nachrichtenanalysten heben hervor, daß einige Länder (Kanada, Schweden und Israel) sehr abrupte Ausgleiche ihrer Haushaltssalden durchsetzen konnten, denen unmittelbar ein Aufschwung nachfolgte.

Das ist aber nur möglich, wenn der Ausgleich ein einzelnes Land betrifft, welches schnell seine Wettbewerbsfähigkeit gegenüber seinen Konkurrenten wiedererlangt. Augenscheinlich vergessen die Anhänger europaweiter Haushaltsausgleiche, daß die europäischen Länder Hauptabnehmer wie Wettbewerber für die anderen europäischen Länder sind, die EU als Ganzes betrachtet ist eine ziemlich geschlossene Volkswirtschaft. Der einzige Effekt einer gleichzeitigen und massiven Reduzierung der Staasausgaben wäre eine verschärfte Rezession mit einem weiteren Anstieg der Staatsverschuldung in Folge.

Zur Vermeidung einer Finanzpolitik, die ein soziales und politisches Disaster auslöst, stellen wir die folgenden zwei Maßnahmen zur Diskussion:

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Fehlbehauptung 6: Staatsverschuldung verschiebt die Last unserer Maßlosigkeit auf unsere Kindeskinder

Dann ist da noch ein weiteres trügerisches Statement, das Hauswirtschaft mit Makroökonomie verwechselt: öffentliche Verschuldung wäre ein Wohlstandstransfer zu Lasten zukünftiger Generationen. Die öffentliche Verschuldung ist ein Wohlstandtransfer, jedoch hauptsächlich vom gemeinen Steuerzahler hin zu den Kapitaleignern.

Jedoch, auf der Grundlage des Glaubens (der praktisch nirgends dokumentiert ist), daß niedrige Steuern Wachstum anregen und den Staatssäckel füllen, haben europäische Staaten seit 1980 die US-Fiskalpolitik imitiert. Kürzungen bei Steuern und Sozialbeiträgen (wie etwa bei Unternehmensgewinnen, den Spitzeneinkommen, beiVermögen, bei Arbeitgeberbeiträgen …) haben gewaltig zugenommen, aber ihr Einfluss auf das Wirtschaftswachstum blieb ausgesprochen ungewiss. Infolgesdessen hat diese konterumverteilende Steuerpolitik zunehmend sowohl das soziale Ungleichgewicht und das öffentliche Defizit verschlimmert.

Diese Steuerpolitik zwang Regierungen dazu, sich Mittel von gutsituierten Haushalten und den Finanzmärkten zu borgen, um die Defzite zu finanzieren, die auf diesem Wege entstanden. Das könnte man auch als „Jackpot-Effekt“ bezeichnen. Mit dem bei den Steuern gesparte Geld waren die Reichen in der Lage, (zinsbringende) Schuldverschreibungen zu erwerben, die zur Finanzierung der öffentlichen und von den Steuersenkungen verursachten Defizite herausgegeben wurden. Die Zinslast für die öffentliche Verschuldung ist mit 40 Mrd. Euro fast so hoch wie das Einkommenssteueraufkommen. Diese Glanzleistung ist umso erstaunlicher, als es den politisch Verantwortlichen gelungen ist, der Öffentlichkeit weis zu machen, daß Arbeitnehmer, Rentner und Kranke für die öffentliche Verschuldung verantwortlich seien.

Der Anstieg der Staatsverschuldung in Europa oder in den USA ist also nicht das Ergebnis einer expansiven keynesianischen Politik oder teurer Sozialprogramme, sondern vielmehr einer Politik zugunsten der wenigen Glücklichen: „Steuererleichterungen“ (niedrigere Steuersätze und Beiträge) steigern das verfügbare Einkommen derer, die es am wenigsten brauchen. Derer schließlich, die ihre Investitionen in Schatzanweisungen, vom Staat mit Zinsen zurückgezahlt, erweitern können mit den Steuereinnahmen, die von allen Steuerzahlern erbracht werden. Im Großen und Ganzen wurde ein Umverteilungsmechanismus von unten nach oben in Gang gesetzt, über die Staatsverschuldung, das Gegenstück dazu ist immer eine private Rente.

Zur Belebung der öffentlichen Finanzen in Europa und Frankreich schlagen wir folgende zwei Maßnahmen vor:

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Fehlbehauptung 7: Wir müssen die Finanzmärkte beruhigen, um die Staatsverschuldung zu finanzieren

Im globalen Maßstab muß ein Anstieg der Staatsverschuldung im Zusammenhang mit dem Prozess der Finanzialisierung gesehen werden. In den letzten 30 Jahren hat die Finanzwelt dank der vollen Liberalisierung der Finanzflüsse ihren Griff auf die Wirtschaft bedeutsam gesteigert. Große Unternehmen vertrauen weniger auf Kredite, sondern zunehmend auf die Finanzmärkte. Auch die Privathaushalte sehen einen zunehmenden Teil ihrer Altersvorsorge durch verschiedene Anlagen in den Finanzsektor abfliessen, in einigen Ländern auch durch Beleihung ihrer Häuser (Hypotheken). Wertpapierverwalter versuchen das Risiko zu streuen, indem sie zusätzlich zu privatem Beteiligungskapital in staatliche Schuldverschreibungen investieren. Diese Staatspapiere waren leicht zu finden, nachdem die Staaten eine ähnliche Politik betreiben, die zu einer Flut an Schulden führt: hohe Zinssätze, Steuererleichterungen für hohe Einkommen, massive Zuzahlungen auf die Ersparnisse der Haushalte für Pensionsfonds usw.

Auf EU-Ebene ist die Finanzialisierung der Staatsverschuldung in den Verträgen mit eingeschlossen. Seit dem Maastrichtvertrag ist es den Zentralbanken untersagt, Staaten zu finanzieren. Diese müssen Gläubiger auf dem Finanzmarkt finden. Diese „monetäre Bestrafung“ ist von einem Prozess der „Finanzliberalisierung“ begleitet und stellt das exakte Gegenteil der Politik dar, wie sie nach der großen Depression in den 1930er Jahren angewandt wurde, welche aus einer „finanziellen Unterdrückung“ (d.h. starke Einschränkung in der Handelsfreiheit bei den Finanzen) und „monetärer Liberalisierung“ (mit einem Ende des Goldstandards) bestand. Das Ziel der europäischen Verträge ist es, Staaten, die angeblich von Haus aus verschwenderisch sind, der Disziplin der Finanzmärkte, welche von Natur aus effizient und allwissend sein sollen, zu unterwerfen.

Das Ergebnis dieser doktrinären Entscheidung ist, daß die Europäische Zentralbank (EZB) nicht mehr befugt ist, direkt Staatsanleihen zu zeichnen, die von europäischen Staaten herausgegeben werden. Um die Sicherheit beraubt, stets von der Zentralbank finanziert zu werden, litten südeuropäische Staaten in der Folge unter spekulativen Angriffen. Zugegebenermaßen hat die EZB Regierungsanleihen zu Marktzinsen aufgekauft, um Druck aus dem europäischen Anleihenmarkt zu nehmen, etwas, das sie sich bis dato im Namen einer standhaften Orthodoxiezu tun weigerte. Aber nichts deutet darauf hin, dass dies ausreichen wird, wenn sich die Schuldenkrise verschlimmert und die Marktzinssätze steigen. Diese monetäre Orthodoxiem bar jeder wissenschaftlichen Grundlage, wird dann schwer aufrecht erhalten zu sein.

Auf das Schuldenproblem angesprochen, schlagen wir folgende zwei Maßnahmen vor:

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Fehlbehauptung 8: Die europäische Union schützt das Europäische Sozialmodell

Die europäische Erfahrung ist zweideutig. Zwei Versionen einer Vision von Europa bestehen nebeneinander, ohne offen einander gegenüber zu stehen. Für Sozialdemokraten sollte Europa das europäische Sozialmodell fördern, das aus dem sozialen Kompromiss nach dem Zweiten Weltkrieg stammt, mit Wohlfahrtsstaat, öffentlichen Dienstleistungen und Industriepolitik. Europa sollte ein Bollwerk gegen die liberale Globalisierung sein, ein Weg, um dieses Modell zu schützen, zu erhalten und weiterzuentwickeln. Europa sollte eine bestimme Vision einer Organisation der Weltwirtschaft verteidigen, d.h. einer Globalisierung, die von den Organen einer globalen Regierungsgewalt reglementiert wird. Europa sollte den Mitgliedsstaaten ermöglichen, ein hohes Niveau an Staatsausgaben und Umverteilung zu erhalten, indem seine Fähigkeit zur Finanzierung von Ausgaben durch Steuerharmonisierungen bei Individuen, Unternehmen und Kapital geschützt wird.

Aber Europa will nicht seine Sonderstellung eingestehen und fördern. Die derzeit vorherrschende Ansicht in Brüssel und in den meisten nationalen Regierungen ist eher die eines liberalen Europas, dessen Ziel es ist, die europäischen Volkswirtschaften auf die Erfordernisse der Globalisierung abzustimmen. Gemäß dieser Auffassung ist die europäische Integration eine Chance, das europäische Sozialmodell zu untergraben und die Wirtschaft zu deregulieren. Dies ist, innerhalb des gemeinsamen Marktes, offensichtlich durch die Vorherrschaft der wettbewerbsrechtlichen Regelungen über nationale Bestimmungen und die Sozialcharta, was mehr Wettbewerb auf den Güter- und Dienstleistungsmärkten einführt, die Bedeutung öffentlicher Dienstleistung herabsetzt und den Wettbewerb unter europäischen Arbeitnehmern organisiert.

Der Wettbewerb in sozialer und fiskalischer Hinsicht hat Steuern gesenkt, namentlich bei Kapitaleinkommen und Unternehmen (der „mobilen Grundlage“ der Besteuerung, im Gegensatz zur Arbeit, der „fixen Grundlage“) und Druck auf die Sozialausgaben ausgeübt. Die Verträge garantieren die sogenammten „Vier Freiheiten“: Freier Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital. Der freie Kapitalverkehr jedoch ist bei weitem nicht auf den internen Markt begrenzt, sondern wird weltweit Investoren zugestanden und unterwirft so die europäische Produktionsstruktur der Verwertung internationaler Kapitalinteressen. Die europäische Integration erscheint demzufolge als ein Weg, den Völkern Europas neoliberale Reformen aufzuerlegen.

Die Organisation makroökonomischer Politik (das heißt Unabhängigkeit der EZB von politischen Kräften sowie der Stabilitäts- und Wachstumspakt) ist durch Misstrauen gegenüber demokratisch gewählten Regierungen gekennzeichnet. Dies entzieht den europäischen Ländern ihre Autonomie in der Geld- und Haushaltspolitik. Da ein ausgeglichener Haushalt erreicht werden muss und Anreize nach eigenem Ermessen verbannt sind, dürfen nur „automatische Stabilisatoren“ eingesetzt werden. In diesem Bereich ist keine gemeinsame antizyklische Wirtschaftspolitik eingerichtet und kein gemeinsames Ziel hinsichtlich Wachstum und Beschäftigung formuliert. Die unterschiedlichen Gegebenheiten in den einzelnen Ländern finden keine Berücksichtigung, da der Vertrag nationale Zinssätze oder Leistungsbilanzsalden nicht behandelt.

Schliesslich berücksichtigen die EU-Ziele für Haushaltsdefizite und Schulden auch nicht nationale wirtschaftliche Gegebenheiten. Die europäischen Behörden haben versucht, mit sehr ungleichmäßigen Erfolg den Akzent auf „strukturelle Reformen“ (durch die Grundzüge der Wirtschaftspolitik, der offenen Methode der Koordinierung und der Lissabon-Agenda) zu setzen. Die Richtlinien wurden weder auf demokratische Weise noch dem Zusammenwachsen förderlich angewendet und ihre neoliberale Ausrichtung entspricht nicht notwendigerweise der Politik auf nationaler Ebene, angesichts der Machtverhältnisse in den einzelnen Ländern. Diese Ausrichtung hat nicht unmittelbar zu den ausgezeichneten Erfolgen geführt, die diese legitimiert hätten. Die Entwicklung zu größerer wirtschaftlicher Liberalisierung wurde in Frage gestellt (siehe das Scheitern der Bolkestein-Richtlinie). Einige Länder wurden verleitet, ihre Industriepolitik zu nationalisieren, die meisten jedoch sträubten sich gegen eine Europäisierung ihrer Haushalts- und Sozialpolitik. Das soziale Europa blieb eine leere Phrase und nur das Europa des Wettbewerbs und der Finanzen hat sich durchgesetzt.

Um in Europa ein wirkliches Europäisches Sozialmodell voranzubringen, schlagen wir eine Diskussion auf der Grundlage folgender zwei Maßnahmen vor:

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Fehlbehauptung 9: Der Euro ist ein Schutzschild gegen die Krise

Der Euro soll einen Schutzschirm gegen die globale Finanzkrise darstellen. Schliesslich hat der Wegfall der Wechselkurse zwischen den europäischen Währungen einen zentralen Faktor von Instabilität ausgeschaltet. Aber der Euro hat uns nicht geschützt: Europa ist tiefgreifender und für einen längeren Zeitraum hinweg von der Krise betroffen als der Rest der Welt. Dies ist darauf zurückzuführen, wie diese Währungsunion geschaffen wurde.

Seit 1999 hat die Eurozone ein relativ schwaches Wachstum erlebt und ein zunehmendes Auseinanderdriften der Staaten hinsichtlich Wachstum, Inflation, Beschäftigung und Aussenhandelsungleichgewicht. Die wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen der Eurozone neigen dazu, ähnliche makroökonomische Maßnahmen auf Länder anzuwenden, die sich in unterschiedlichen Lagen befinden, und haben das Missverhältnis im Wachstum zwischen den Mitgliedsstaaten verstärkt. In den meisten Staaten, insbesondere den größeren, regte die Einführung des Euro, im Gegensatz zu den Versprechungen, kein Wachstum an. In anderen Staaten hat ein solches Wachstum stattgefunden, allerdings zum Preis von Ungleichgewichten, die sich als schwer abzufangen erwiesen haben. Monetäre und fiskalische Orthodoxie, flankiert vom Euro, haben die gesamte Last der Anpassung dem Faktor Arbeit aufgebürdet. Insgesamt wurden eine Flexibilisierung der Arbeit und maßvolle Lohnabschlüsse vorangetrieben, der Anteil der Einkünfte abhängig Beschäftigter am Gesamteinkommen wurde geringer und die Ungleichverteilung wurde vergrößert.

Sieger in diesem Rennen nach unten war Deutschland, das in der Lage war, riesige Aussenhandelsüberschüsse auf Kosten seiner Nachbarn, und vor allem seiner Beschäftigten zu erzielen. Deutschland hat niedrige Arbeitskosten und Sozialleistungen eingeführt, was diesem Land gegenüber seinen Nachbarn, die ihre eigenen Beschäftigten nicht so übel behandeln konnten, einen Wettbewerbsvorteil verschafft hat. Der deutsche Aussenhandelsüberschuß ist für das Wachstum in anderen Ländern nachteilig. Zahlungs- und Handelsbilanzdefizite der einen sind nur das unvermeidliche Gegenstück zu den Überschüssen der anderen Mitgliedsstaaten. Generell gesagt waren die Mitgliedsstaaten nicht in der Lage, eine koordinierte Strategie zu entwickeln.

Die Eurozone sollte von der Finanzkrise eigentlich weniger belastet sein, als die Vereinigten Staaten oder Großbritannien. Haushalte in der Eurozone investieren viel weniger in die Finanzmärkte, die auch nicht so entwickelt sind. Zudem standen die öffentlichen Finanzen vor der Krise besser da: Das Haushaltsdefizit der Euroländer erreichte im Jahr 2007 lediglich 0,6% des BIP, verglichen mit fast 3% in den USA, Großbritannien und Japan. Aber die Eurozone litt an sich ausbreitenden Ungleichgewichten: die nördlichen Länder (Deutschland, Österreich, Niederlande und Skandinavien) drosselten Lohnniveau und Binnennachfrage, während die südlichen Länder (Spanien, Griechenland, Irland) ein kräftiges Wachstum erlebten, das von Zinssätzen unter den Wachstumsraten und anwachsenden externen Defiziten angetrieben wurde.

Obwohl die Finanzkrise von den Vereinigten Staaten ausging, hat die US-Regierung eine pragmatische Politik fiskalischer und monetärer Anreize eingeführt, während sie gleichzeitig eine Entwicklung zur Finanzmarktregulierung initiierte. Im Gegensatz dazu ist Europa daran gescheitert, sich auf eine hinreichend reaktionsfähige Politik einzulassen. Von 2007 bis 2010 war die fiskalpolitische Stimulierung in der Eurozone auf 1,6 Prozentpunkte des BIP beschränkt, gegenüber 3,2 Prozentpunkten in Großbritannien und 4,2  Prozentpunkten in den USA. Der durch die Krise bedingte Produktionsausfall war in der Eurozone viel größer als in den Vereinigten Staaten. Die zunehmende Staatsverschuldung in diesen Ländern war eher das Ergebnis der Krise, als das einer aktiven Wirtschaftspolitik.

Gleichzeitig hat die Kommission weitere Verfahren wegen übermäßiger Defizite gegen Mitgliedsstaaten eingeleitet, sodass bis Mitte 2010 nahezu alle Staaten in der Euro-Zone davon betroffen waren. Die Kommission hat die Mitgliedsstaaten dazu aufgefordert, sich zu verpflichten, ihre Budgetdefizite bis 2013 oder 2014 auf 3% zu begrenzen. Die europäischen Behördern fordern nach wie vor eine restriktive Lohnpolitik und stellen öffentliche Altersversorgung und Gesundheitssysteme in Frage, auch auf die offensichtliche Gefahr hin, die Rezession auf dem Kontinent zu vertiefen und Spannungen zwischen den Ländern zu verschärfen.

Der Mangel einer Koordination, und grundlegender noch, das Fehlen eines EU-Haushalts, der eine wirksame Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten herstellt, hat die Akteure auf den Finanzmärkten bestärkt, sich vom Euro abzuwenden oder sogar offen gegen ihn zu spekulieren.

Um die europäischen Bürger wirksam vor der Krise zu schützen, schlagen wir für den Euro folgende drei Maßnahmen vor:

 

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Fehlbehauptung 10: Die Griechenlandkrise war das Sprungbrett zu einer europäischen Wirtschaftsregierung und einem wirklichen europäischen Sozialpakt

Seit Mitte 2009 haben die Finanzmärkte begonnen, auf die Schulden von Staaten zu spekulieren. Pauschal gesprochen haben steigende Schulden und Defizite (bis jetzt) nicht zu höheren langfristigen Zinssätzen geführt: Die Finanzakteure gehen davon aus, dass die Zentralbanken kurzfristige Zinssätze nahe bei Null für einen langen Zeitraum beibehalten werden, und daß keine echte Gefahr einer Inflation oder Pleite eines großen Landes besteht. Spekulanten haben jedoch die Schwachstellen in der Organisation des Euro-Gebietes erkannt. Während die Regierungen anderer entwickelter Länder immer noch von ihrer Zentralbank unterstützt werden können, haben die Länder der Euro-Zone diese Option abgeschafft und sind vollständig vom Markt abhängig, um ihre Schulden zu finanzieren. Daher wurden Spekulationen gegen die verwundbarsten Länder in diesem Gebiet, das sind Griechenland, Spanien und Irland, ausgelöst.

Europäische Behörden und Regierungen haben nur sehr zögernd auf diese Entwicklung reagiert, da sie nicht den Eindruck erwecken wollten, dass Mitgliedsstaaten einen Anspruch auf unbegrenzte Unterstützung durch ihre Partner haben. Sie wollten Griechenland abstrafen, welches – mit der Hilfe von Goldman Sachs – den wahren Umfang seiner Defizite verschwiegen hatte. Im Mai 2010 mussten jedoch die EZB und die Mitgliedsstaaten einen Notfall-Stabilisierungsfonds schaffen, um den Finanzmärkten zu signalisieren, daß sie gefährdete Länder uneingeschränkt unterstützen. Als Gegenleistung mussten diese Länder noch nie da gewesene fiskalische Sparmaßnahmen ankündigen, was sie kurzfristig zu einer Konjunkturabschwächung und einer langen Rezessionsphase verdammt. Auf Druck des IWF und der Europäischen Kommisssion musste Griechenland öffentliche Dienstleistungen privatisieren und Spanien seinen Arbeitsmarkt flexibler gestalten. Selbst Frankreich und Deutschland, die durch die Spekulation nicht angegriffen wurden, haben restriktive Maßnahmen angekündigt.

Insgesamt gibt es aber keinen Nachfrageüberhang in Europa. Die Finanzlage ist besser als in den USA oder Großbritannien und lässt Raum für steuerliche Manöver. Wir müssen die Ungleichgewichte in abgestimmter Weise korrigieren: Die Länder Nord- und Mitteleuropas mit Aussenhandelsüberschüssen sollten eine expansive Politik verfolgen – höhere Arbeitseinkommen, Sozialausgaben u.s.w –, um eine restriktive Politik der südlichen Länder auszugleichen. Insgesamt sollte die Steuerpolitik in der Eurozone im Mittel nicht restriktiv sein, solange die europäische Wirtschaft nicht in die Nähe der Vollbeschäftigung kommt.

Unglücklicherweise sind aber gerade die Unterstützer einer automatischen und restriktiven Steuerpolitik heutzutage bestärkt. Die Griechenlandkrise ermöglicht es ihnen, uns die Ursachen der Finanzkrise vergessen zu lassen. Diejenigen, die finanziellen Hilfsleistungen für die südlichen Länder zugestimmt haben, wollen im Gegenzug eine Straffung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes verhängen. Die EU-Kommission und Deutschland verlangen von allen Mitgliedsstaaten, das Ziel eines ausgeglichenen Haushalts in ihre Verfassungen aufzunehmen. Die Kommission möchte über die Länder eine lange Austeritätskur verhängen, solange ihre Staatsverschuldung über 60% des BIP liegt. Wenn es einen Schritt hin zu einer europäischen Wirtschaftsregierung gibt, so ist das paradoxerweise hin zu einer Regierung, die, anstatt die Finanzfesseln zu lockern, weitere Sparmaßnahmen und Struktur„reformen“ innerhalb und zwischen den Staaten auf Kosten der Solidargemeinschaft einführt.

Die Krise bietet Finanzeliten und europäischen Technokraten die Möglichkeit, eine Schockstrategie durchzusetzen, indem die Krise ausgenutzt wird, radikal neoliberale Vorstellungen weiter durchzusetzen. Diese Politik hat aber kaum Aussicht auf Erfolg:

- Die Senkung der Staatsausgaben untergräbt die notwendigen Anstrengungen auf europäischer Ebene, Mittel in notwendigen Bereichen (wie Forschung, Bildung oder Familienförderung) bereitzustellen, den europäischen Industriestandort zu erhalten und in Zukunftstechnologien zu investieren (grüne Ökonomie).

- Die Krise wird es ermöglichen, tiefe Einschnitte bei den Sozialausgaben vorzunehmen, ein Ziel, das von den Vertretern des Neoliberalismus schonungslos verfolgt wird. Dies wird erkauft mit dem Risiko, den sozialen Zusammenhalt zu unterminieren, die wirksame Nachfrage zu senken und Haushalte dazu zu verführen, mehr für private Altersvorsorge und Krankenversicherung zu sparen, und belohnt somit auch noch die privaten Finanzinstitutionen, die für die Krise verantwortlich sind.

- Regierungen und die europäischen Behörden sind nicht gewillt, den steuerlichen Harmonisierungsprozess in Gang zu setzen, der die notwendigen Steuererhöhungen im Finanzsektor, dem Vermögen und den hohen Einkommen ermöglichen würde.

- Derzeit errichten die europäischen Länder eine nachhaltig restriktive Fiskalpolitik, die schwer auf das Wachstum drückt. Die Steuereinnahmen werden sinken. Auf diese Weise können Haushaltssalden kaum verbessert werden, die Verschuldungsquote wird nicht abnehmen und die Märkte werden nicht beruhigt.

- Wegen ihrer unterschiedlichen politischen und sozialen Kulturen waren nicht alle europäischen Länder in der Lage, sich der eisernen Disziplin zu unterwerfen, die ihnen vom Maastrichtvertrag auferlegt wurde; nicht alle von ihnen werden sich dem jetzigen verstärkten Druck beugen. Die Gefahr eine Dynamik zu schaffen, bei der sich jedes Land zurückzieht, ist real.

Um in Richtung einer eigenständigen Wirtschaftsregierung und europäischen Solidargemeinschaft zu gehen, schlagen wir folgende zwei Maßnahmen vor:

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Quelle: Pro domo et mundo

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