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Drachenwut's PolitikblogPolitische KorrektheitPolitische Korrektheit (dengl. pollitickel koräktnäss) ist heutzutage, dass logisch-auf sich beruhende Gegenteil von faktischer Korrektheit. |
2011-08-14
Ein
Jahrzehnt enthemmter Finanzmarktökonomie entpuppt sich als das erfolgreichste
Resozialisierungsprogramm linker Gesellschaftskritik. So abgewirtschaftet sie
schien, sie ist nicht nur wieder da, sie wird auch gebraucht. Die Krise der
sogenannten bürgerlichen Politik, einer Politik, die das Wort Bürgertum so
gekidnappt hat wie einst der Kommunismus den Proletarier, entwickelt sich zur
Selbstbewusstseinskrise des politischen Konservatismus.
Realpolitik und Pragmatismus
verdecken die gähnende Leere, und die Entschuldigung, Fehler machten ja auch
die anderen, ist das Pfeifen im Walde. Aber es geht heute nicht allein um
falsches oder richtiges politisches Handeln. Es geht darum, dass die Praxis
dieser Politik wie in einem Echtzeitexperiment nicht nur belegt, dass die
gegenwärtige „bürgerliche“ Politik falsch ist, sondern, viel erstaunlicher,
dass die Annahmen ihrer größten Gegner richtig sind.
© AFP
„Globalisierung bedeutet nur, dass Banken die
Gewinne internationalen Erfolgs an sich reißen und die Verluste auf jeden
Steuerzahler jeder Nation verteilen.”
„Die Stärke der Analyse der Linken“, so schreibt der erzkonservative
Charles Moore im „Daily Telegraph“, „liegt darin, dass sie verstanden haben,
wie die Mächtigen sich liberal-konservativer Sprache als Tarnumhang bedient
haben, um sich ihre Vorteile zu sichern. ,Globalisierung‘ zum Beispiel sollte
ursprünglich nichts anderes bedeuten als weltweiter freier Handel. Jetzt heißt
es, dass Banken die Gewinne internationalen Erfolgs an sich reißen und die
Verluste auf jeden Steuerzahler in jeder Nation verteilen. Die Banken kommen
nur noch ,nach Hause‘, wenn sie kein Geld mehr haben. Dann geben unsere
Regierungen ihnen neues.“
Das politische System dient
nur den Reichen?
Es gibt Sätze, die sind falsch. Und es gibt Sätze, die sind richtig.
Schlimm ist, wenn Sätze, die falsch waren, plötzlich richtig werden. Dann
beginnt der Zweifel an der Rationalität des Ganzen. Dann beginnen die Zweifel,
ob man richtig gelegen hat, ein ganzes Leben lang. Es ist historisch der
Moment, wo alte Fahrensleute sich noch einmal zu Wort melden, um zu retten, was
zu retten ist. Der liberale Katholik Erwin Teufel hat das mit einer
hochdramatischen, aus zusammenbrechenden Glaubenssystemen überlieferten
rhetorischen Figur getan: Er rede, weil er nicht mehr länger schweigen könne Erwin
Teufel: "Ich schweige nicht länger". Es ist der erste Akt.
Das komplette
Drama der Selbstdesillusionierung des bürgerlichen Denkens spielt sich gerade
in England ab. In einem der meistdiskutierten Kommentare der letzten Wochen
schrieb dort Charles Moore: "Es hat mehr als dreißig Jahre gedauert, bis ich
mir als Journalist diese Frage stelle, aber in dieser Woche spüre ich, dass ich
sie stellen muss: Hat die Linke nicht am Ende recht?" Moore hatte das vor den
Unruhen geschrieben und ohne jede Vorahnung. Ehrlich
gestanden: Wer könnte ihm widersprechen?
Das politische System dient
nur den Reichen? Das ist so ein linker Satz, der immer falsch schien, in
England vielleicht etwas weniger falsch als im Deutschland Ludwig Erhards. Ein
falscher Satz, so Moore, der nun plötzlich ein richtiger ist. „Denn wenn die
Banken, die sich um unser Geld kümmern sollen, uns das Geld wegnehmen, es
verlieren und aufgrund staatlicher Garantien dafür nicht bestraft werden,
passiert etwas Schlimmes. Es zeigt sich – wie die Linke immer behauptet hat –,
dass ein System, das angetreten ist, das Vorankommen von vielen zu ermöglichen,
sich zu einem System pervertiert hat, das die wenigen bereichert.“ So Moore. Er
geht es alles durch: Murdoch, von dem er sagt, dass ihn die Linke schon
durchschaute, als die Rechte Populismus noch für Demokratie hielt, die Kredit-
und Finanzkrise, den Rechtsbruch europäischer Regierungschefs, den Primat des
ökonomischen Diskurses und schließlich die Krise der Eurozone selbst. Ein
linker Propagandist, so Moore, hätte eine Satire, wie Geld die Welt regiert,
nicht besser erfinden können.
An dieser Stelle muss man
sagen, wer Charles Moore ist. Nicht nur ein brillanter konservativer Publizist,
sondern auch der offizielle Biograph Margaret Thatchers, eine Biographie
übrigens, die erst nach ihrem Tode erscheinen darf. „Die Resonanz auf meinen
Artikel ist gewaltig“, sagt er im Gespräch, „aber es gibt ein paar
Missverständnisse. Manche Leute glauben, ich meinte, Labour habe recht. Davon
rede ich nicht. Ich rede von linken Ideen und bürgerlichen Ideen.“
Es mag sein und wird auch
sofort gesagt werden, dass die Lage in England eine andere ist. Und dennoch
sind die Übereinstimmungen unübersehbar, die Erwin-Teufel-Debatte ist nur ein
Indiz. Es war ja nicht so, dass der Neoliberalismus wie eine Gehirnwäsche über
die Gesellschaft kam. Er bediente sich im imaginativen Depot des bürgerlichen
Denkens: Freiheit, Autonomie, Selbstbestimmung bei gleichzeitiger Achtung von
individuellen Werten, die Chance, zu werden, wer man werden will, bei
gleichzeitiger Zähmung des Staates und seiner Allmacht. Und gleichzeitig
lieferte ihm die CDU ihren größten Wert aus: die Legitimation durch die Erben
Ludwig Erhards, das Versprechen, dass Globalisierung ein Evolutionsprodukt der
sozialen Marktwirtschaft wird. Ludwig Erhard plus AIG plus Lehman plus
bürgerliche Werte – das ist wahrhaft eine Killerapplikation gewesen.
Man muss hier nicht mehr
aufzählen, was dann geschah, wer alles im Aufsichtsrat der Hypo Real Estate saß
und was schließlich in der flehentlichen Bitte von Bankern um Verstaatlichung
nicht endete. Entscheidend ist etwas anderes: Die CDU hat ihre an die
Finanzmärkte ausgeliehenen immateriellen Werte, ihre Vorstellung vom Individuum
und vom Glück des Einzelnen, niemals zurückgefordert. Sie hat nicht nur keine
Verantwortung für pleitegehende Banken verlangt, sie hat sich noch nicht einmal
über die Verhunzung und Zertrümmerung ihrer Ideale beklagt. Entstanden ist so
eine Welt des Doppel-Standards, in der aus ökonomischen Problemen unweigerlich
moralische Probleme werden. Darin liegt die Explosivität der gegenwärtigen
Lage, und das unterscheidet sie von den Krisen der alten Republik. Die
Atomisierung der FDP, die für den Irrweg bestraft wurde, ist rein funktionell.
Niemand würde der existierenden liberalen Partei besondere moralische Kompetenz
zusprechen, und sie hat es, ehrlicherweise, auch nie von sich behauptet. Der
Preis der CDU ist weit mehr als ein Wahlergebnis. Es ist die Frage, ob sie ein
bürgerlicher Agendasetter ist oder ob sie das Bürgertum als seinen Wirt nur
noch parasitär besetzt, aussaugt und entkräftet.
Das große Versprechen an
individuellen Lebensmöglichkeiten hat sich in sein Gegenteil verkehrt. Es ist
Moore, der hier spricht und der einst im Thatcherismus alter Prägung die
größtmögliche Erfahrung gesellschaftlicher Perfektion erblickte: „Ihre Chancen
für einen Job, für ein eigenes Haus, eine anständige Pension, einen guten Start
für Ihre Kinder, werden immer kleiner. Es ist, als ob man in einem Raum lebt,
der immer mehr schrumpft. Für Menschen, die nach 1940 geboren wurden, ist dies
eine völlig neue Erfahrung. Wenn es noch länger so weiter geht, wird sie
ziemlich schrecklich werden.“
Die CDU aber, belehnt mit
einem autodidaktischen Ludwig-Erhard-Studium, sieht nicht, wer in diesen
schrumpfenden Räumen sitzt: Lehrer und Hochschullehrer und Studenten,
Polizisten, Ärzte, Krankenschwestern, gesellschaftliche Gruppen, die in ihrem
Leben nicht auf Reichtum spekulierten, sondern in einer Gesellschaft leben
wollen, wo eindeutige Standards für alle gelten, für Einzelne, für Unternehmen
und für Staaten, Standards von Zuverlässigkeit, Loyalität, Kontrolle.
Angela Merkel war bisher
nicht in der Lage, die moralischen Folgen der Krise in der Eurozone zu
thematisieren. Das ist schlimm genug. Undenkbar, dass zu Zeiten Erhards nicht
ein Selbstverständigungsprozess eingesetzt hätte. Dafür fehlt der Partei
augenscheinlich das Personal. Denn die Macht dazu fehlt ihr keinesfalls. Über
das Wort „Monster“ ist die politische Positionierung der Konservativen bis
heute nicht hinausgekommen – und das las man früher und besser auf den
„Nachdenkseiten“ des unverzichtbaren Albrecht Müller, einst Vordenker von Willy
Brandt.
Ein Bundespräsident aus dem
bürgerlichen Lager, von dem man sich ständig fragt, warum er unbedingt
Bundespräsident werden wollte, schweigt zur größten Krise Europas, als glaube
er selbst schon nicht mehr an die Rede, die er dann halten muss. Eine Ära
bürgerlicher Politik sah die Deklassierung geistiger Arbeit, die schleichende
Zerstörung der deutschen Universität, die ökonomische Unterhöhlung der
Lehrberufe. Frau Schavan ist inexistent. Dass Gesundheit in einer alternden
Gesellschaft nicht mehr das letzte Gut sein kann, weil sie nicht mehr
finanzierbar sein wird – eine der großen Wertedebatten der Zukunft, die jede
einzelne Familie betreffen wird, zu der man eine sich christlich nennende
Partei gerne hören würde, ja hören muss –: kein Wort, nichts, niemand.
Schließlich: Der geradezu verantwortungslose Umgang mit dem demographischen Wandel – der endgültige Abschied von Ludwig Erhards aufstiegswilligen Mehrheiten - macht in seiner gespenstischen Abgebrühtheit einfach nur noch sprachlos. Ein Bürgertum, das seine Werte und Lebensvorstellungen von den „gierigen Wenigen“ (Moore) missbraucht sieht, muss in sich selbst die Fähigkeit zu bürgerlicher Gesellschaftskritik wiederfinden. Charles Moores Intervention zeigt, wie sie aussehen könnte.
Quelle: Faz.net
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