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Drachenwut's PolitikblogFreies Konsensfindungs-Forum"Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens. Thomas J. Dunning (1799 - 1873) |
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Eine Reihe von Beiträgen zur globalen Situation
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Amerikas Abstieg: Eine Chance für Russland? 05.10.2013Die Welt gewöhnt sich allmählich an die USA als ein Land, das zunehmend für Überraschungen gut ist. Die Vereinigten Staaten waren immer stolz auf ihre Fähigkeit, Extreme zu vermeiden und die goldene Mitte zu finden. Mittlerweile hat sich die Situation gewandelt. Selbst kleinste Differenzen führen zu einem großen Streit zwischen den Demokraten und Republikanern, die ihre radikalen Positionen offenbar durchsetzen wollen. Die „Lahmlegung“ der US-Regierung wird wohl nicht lange dauern. Die Sticheleien zwischen den Politikern schaden dem Ruf beider Parteien und nerven die Wähler. Eine Einigung ist daher spätestens Mitte Oktober zu erwarten. Eine weitere Anhebung der Schuldenobergrenze wird notwendig sein, sonst können die USA ihre Verpflichtungen gegenüber den Kreditgebern nicht mehr erfüllen. Dies würde das Land und seine Wirtschaftsstärke erschüttern. Die politischen Lager in den USA werden weltweit für Nervosität sorgen, doch im letzten Moment wird eine Einigung zustande kommen. Beide Seiten werden eine Zwischenlösung finden, die bis zur nächsten Krise Bestand hat. Die Supermacht wird ein Prozess des Umdenkens beginnen. Die Ära des Kalten Krieges, als die USA sich als Übermacht sahen, ist vorüber. Vor zehn Jahren war viel über das Ende der USA als weltweite Ordnungsmacht gesprochen worden – ob sich die USA als Weltpolizisten übernommen haben. Nach all den theoretischen Diskussionen über die zukünftige Rolle der USA hat die Realität Einzug gehalten. Die Amerikaner haben sich fast einhellig gegen einen Militäreinsatz in Syrien ausgesprochen. Experten zufolge sind fast 75 Prozent der Amerikaner gegen einen weiteren Krieg im Nahen Osten. Das ist naheliegend. Interessant ist aber, dass nahezu 75 Prozent der Amerikaner fast keine Zweifel daran haben, dass der syrische Machthaber Baschar al-Assad Chemiewaffen gegen Zivilisten eingesetzt hat. Vor fünf bis sieben Jahren noch hätten die Amerikaner gefordert, den vermeintlichen Bösewicht zu bestrafen. Mittlerweile haben sie genug eigene Probleme und keine Lust, sich in den Syrien-Krieg einzumischen. Die Politiker müssen den Wählern folgen, um ihr Vertrauen bei wichtigeren innenpolitischen Fragen nicht zu verlieren. Die Innenpolitik in den USA bestimmt auch die Außenpolitik. Obama will mit seinen Manövern bei internationalen Fragen seine Stellung nicht verlieren. Für die Republikaner ist es viel wichtiger, die Gesundheitsreform zum Scheitern zu bringen als das Image des Landes im Ausland zu erhalten. Vor zwei Jahren verfolgte die ganze Welt das Gerangel um die US-Schuldenobergrenze, als der Kongress und das Weiße Haus in letzter Minute einen Kompromiss erreichten. Auch diesmal blickt die Welt gespannt auf Washington. Der russische Präsident Wladimir Putin kritisierte in seinem Artikel für die „New York Times“ die Amerikaner, sich für etwas Besonderes zu halten. Anschließend kam es zu großen Debatten über dieses Thema. Die USA spielen tatsächlich eine Sonderrolle in der Weltordnung. Die Weltgemeinschaft wird nervös, wenn es in den USA zu inneren Konflikten kommt. Bei dem Streben nach einer multipolaren Weltordnung geht es vielen Staaten nicht um Anti-Amerikanismus, sondern um den Wunsch, nicht mehr von einem Machtzentrum abzuhängen. Die US-Politik ist zyklisch. Der allmähliche Aufstieg zur weltweiten Supermacht begann vor rund 100 Jahren. Die USA wurden erst die Führungsmacht der Erdbalbkugel, dann des Westens und schließlich der Welt. Zuvor hatten die USA nie den Wunsch verspürt, sich in äußere Angelegenheiten einzumischen, die die nationalen Interessen nicht unmittelbar beeinflussen. Jetzt beginnt vielleicht ein neuer Zyklus. Der klassische Isolationismus ist angesichts der weltweit vernetzten Wirtschaft unmöglich, doch der Verzicht auf überflüssige Ausgaben und Anstrengungen, und eine Verengung der Perspektive können wohl die bisherige außenpolitische Vorgehensweise ablösen. In drei Jahren wählen die Amerikaner einen neuen Präsidenten. Diese Wahlen können zu den wichtigsten und interessantesten seit vielen Jahren werden. Angesichts der Stimmung in der amerikanischen Gesellschaft werden die Kandidaten wohl zwei sehr unterschiedliche Vorstellungen von der Zukunft ihres Landes haben. Der eine könnte zur Rückkehr zu den offensiven Strategien aus der Ära von Ronald Reagan oder Bill Clinton aufrufen, der andere zur Besinnung auf die eigenen Probleme. Die zweite Variante ist derzeit kaum vorstellbar. Doch Überraschungen sind in der heutigen Zeit nicht ausgeschlossen. Die russisch-amerikanischen Beziehungen sehen mitunter seltsam aus. Einerseits sind Differenzen bei den grundsätzlichen Fragen der Innenpolitik und der Weltordnung zu erkennen. Es fehlen Themen mit gemeinsamer Perspektive – die alten Themen sind nahezu ausgeschöpft. Dennoch befinden sich beide Länder in einer Phase des Nachdenkens über ihre Rolle in der Welt. Die wichtigsten Aufgaben der 20 postsowjetischen Jahre wurden erfüllt – zumindest in dem Umfang, in dem es möglich war. Russland hat wieder an außenpolitischem Gewicht gewonnen und muss gehört werden – sowohl in den Nachbarländern als auch in den internationalen Fragen. Wie geht es jetzt weiter? Sich nur als hartnäckiger Widersacher der USA und deren Verbündeten zu positionieren, wird nicht ausreichen. Die Welt braucht Lösungen und keine Kämpfe. Der weltpolitische Abstieg der USA führt zu der Frage, wer das entstandene Machtvakuum ausfüllt. Wer ist bereit, die Verantwortung zur Lösung von internationalen Streitfragen zu übernehmen? China ist dazu nicht bereit. Auch Russland scheint nicht dazu bereit zu sein. Angesichts der Besonderheiten der russischen Wirtschaft und der geopolitischen Lage würde Russland die Folgen des weltweiten Chaos zuerst spüren. Deswegen muss Moskau wohl mehr als die anderen eine versöhnende Rolle spielen. Die Syrien-Frage ist der erste ernsthafte Versuch Moskaus, diese Rolle zu übernehmen. Moskau geht das Risiko ein. Es ist sicherer, „Mr. No“ zu sein als sich in ein diplomatisches Spiel einzulassen. Doch die Tatsache, dass Russlands Syrien-Initiative vor einigen Wochen noch aussichtslos schien und jetzt erfolgreich politische Hindernisse überwindet, zeigt, dass Diplomatie nach wie vor gefragt ist. Diese Diplomatie ist vor allem für die USA wichtig, die ihre wahren Aussichten und Bedürfnisse oft überschätzen. Im Kalten Krieg hing alles von Moskau und Washington ab. Auch heute noch hängt vieles von den beiden Ländern ab, weil keine anderen Akteure die Initiative ergreifen. ----------------------------------------------------------------- Rückkehr der grossen Diplomatie Entsorgung der syrischen Chemiewaffen / 28.09.2013Die Welt hatte vergessen, was große Diplomatie ist. Wenn es um alles oder nichts geht, um Krieg oder Frieden. Wenn jemand eine Idee hat, die im nächsten Moment schon wie etwas fast Selbstverständliches erscheint. Und dann folgt ein Wettlauf gegen die Zeit, ein erbittertes politisches Gefeilsche zur Entschärfung der „Minen“, welche die Umsetzung der Vereinbarungen erschweren. Die Genfer Verhandlungen der Außenminister Russlands und der USA, Sergej Lawrow und John Kerry, über die Entsorgung der syrischen Chemiewaffen sind so ein Fall. Auch im Frühjahr 1999 stritten die G8 darüber, wie der Nato-Krieg gegen Jugoslawien beendet werden sollte. Aber damals war schon im Voraus offensichtlich, wie er enden würde: Die militärpolitische Dominanz des Westens und seine Überzeugung von der Richtigkeit seiner Ansichten ließen Belgrad keine Chance: Es wurde nur über die Bedingungen seiner Kapitulation gefeilscht. Jetzt ist jedoch alles anders: Russland hat seine Position gefestigt, Europa schlittert in die Krise und selbst die USA scheinen von den vielen Kriegen der letzten Jahre müde zu sein. Ihre Instinkte sind im Grunde dieselben, doch ihre Möglichkeiten sind geringer geworden. Deshalb war Russlands Initiative für sie wie der rettende Strohhalm. Lawrow und Kerry zeigten sich nach der Einigung in Genf zufrieden, doch der wichtigste Kampf steht noch bevor. Unter den Rahmenbedingungen in Bezug auf Syrien wird der Artikel 7 der UN-Charta erwähnt, der Gewaltanwendung im Falle einer Verletzung der getroffenen Vereinbarungen vorsieht. Bisher lehnte Moskau eine internationale Einmischung in den Syrien-Konflikt und eine Gewaltanwendung im Fall einer Abweichung von den Genfer Abkommen vehement ab. Heutzutage kennt man viele Beispiele, dass Großmächte UN-Resolutionen willkürlich deuten. Ihre juristische Interpretation wird oft von politischen Sympathien bzw. Antipathien geprägt – für autoritäre Herrscher gilt eine Art Präsumtion der Schuld. Sollte im Fall Syrien etwas schief gehen, dann würde der Westen lieber ultimativ seine Bedingungen stellen anstatt zu verhandeln. Die russische Seite würde sich das unmöglich gefallen lassen, so dass es zu neuen Auseinandersetzungen kommen könnte. Denn selbst wenn Syriens chemische Waffen erfolgreich entsorgt werden, bleibt die wichtigste Frage unbeantwortet: Wer ist an dem seit nahezu drei Jahren andauernden Bürgerkrieg schuld? Deshalb sollte man sich über den großen diplomatischen Erfolg lieber nicht zu früh freuen. Dennoch scheint eine neue Ära zu beginnen: Russlands Initiative war deswegen erfolgreich, weil sie einen Ausweg aus dem Dilemma bot: Wie wäre der Krieg zu vermeiden, den eigentlich niemand will (Umfragen in den USA und Europa zeugen davon ganz deutlich), ohne dass jemand sein Gesicht verliert? Seit den frühen 1990er-Jahren (damals entstand die These, dass humanitäre Intervention und gerechter Krieg im Grunde identisch sind) glaubten Großmächte, dass lokale Konflikte nicht durch Verhandlungen, sondern durch Militäreinsätze zugunsten der „guten“ Seite geregelt werden dürfen. Das wurde jedoch jedes Mal zunehmend schwieriger und rief immer mehr Zweifel hervor – weil die Ergebnisse dieser Interventionen immer anders waren als erwartet. Es stellte sich heraus, dass Diplomatie doch nötig ist. Profis suchen ernsthaft nach Auswegen aus der Sackgasse und kommen gemeinsam auf Ideen, wie potenzielle Widersprüche vermieden werden können. Je weniger Vertrauen die Seiten zueinander haben, desto wichtiger ist es, alle Einzelheiten im Voraus zu besprechen, um künftige Kontroversen zu vermeiden, die nicht nur den Regelungsprozess hindern, sondern eine noch größere Krise auslösen könnten. Die große Diplomatie könnte eine Renaissance erleben. Zuletzt wurde viel von der multipolaren Welt gesprochen – egal ob mit Hoffnung oder mit Angst. Nun ist sie wirklich multipolar geworden. Die USA haben sich überzeugen müssen, dass sie nicht allein die Welt regieren, zumal die Amerikaner der globalen Führungsrolle ihres Landes müde sind und keinen Enthusiasmus mehr in Bezug auf die weitere Expansion empfinden. Es entstehen neue Länder, die weltweit an Einfluss gewinnen wollen, selbst wenn sie häufig nicht in der Lage sind, ihre Ambitionen mit Taten zu untermauern. Egal wie, aber die Zeit der einfachen Entscheidungen ist vorbei. Niemand kann anderen etwas aufzwingen, denn niemand hat entsprechende Instrumente – die aktuelle Situation im Nahen Osten zeigt das ganz deutlich. Kennzeichnend ist, dass Moskau und Washington am Anfang dieser neuen Epoche wieder zusammenwirken, obwohl es keine bipolare Weltordnung mehr gibt. Als die große diplomatische Kunst erforderlich wurde, wurde offensichtlich, dass nur Russland und Amerika dazu fähig sind. Europa kämpft mit seinen eigenen Problemen und ist inzwischen in der Peripherie der Weltpolitik gelandet. China bleibt nach wie vor lieber im Schatten. Newcomer wie Indien oder Brasilien haben keine Erfahrungen und wissen einfach nicht, wie sie in solchen Situationen vorgehen sollen. Regionale Großmächte wie Saudi-Arabien, die Türkei oder der Iran sind selbst in den Syrien-Konflikt verwickelt. Somit mussten wieder der Kreml und das Weiße Haus die Verantwortung übernehmen. Aber auch sie können nicht mehr alles für andere entscheiden, obwohl ihnen anscheinend keine andere Wahl bleibt. ----------------------------------------------------------------- Russland oder EU: Die Ukraine steht am Scheideweg 15.09.2013Die russisch-ukrainischen Beziehungen sind wieder in den Mittelpunkt des Interesses geraten. Nach der Unterzeichnung des Charkow-Abkommens vor drei Jahren, als die Stationierungsfrist der russischen Schwarzmeerflotte in Sewastopol im Tausch gegen ermäßigte Gaspreise beschlossen wurde, ist nichts Besonderes passiert. Die Annäherungsversuche brachten keine Ergebnisse. Allerdings gibt es keine Feindseligkeit zwischen den Ländern wie unter dem früheren Präsidenten Viktor Juschtschenko. Offenbar haben die Seiten ihre Lehren aus dieser Zeit gezogen. Die Beziehungen sind intensiver, aber nicht inhaltsreicher geworden. Der Impuls kam wie immer von außen. Je näher die Unterzeichnung des Freihandelsabkommen mit der EU auf dem Gipfel der Ostpartnerschaft im November in Vilnius rückt, desto häufiger wird in der Ukraine über eine Annäherung an Russland diskutiert. Putins Besuch in Kiew und Moskaus Importverbot für ukrainische Waren verdeutlichen, dass der Kreml ernsthaft über das Streben der Ukraine in die EU beunruhigt ist. Der Zollstreit soll den Ukrainern vor Augen führen, welche Konsequenzen eine Annäherung an die EU hat. Den Ukrainern wurde demonstriert, wie sich die Beziehungen entwickeln werden, falls das Abkommen mit der EU unterzeichnet werden sollte. Lässt man die typische Stimmungsmache in den russisch-ukrainischen Beziehungen mal beiseite, was ist der Kern der Diskussionen in Moskau? Sie sind heute weniger politisiert als in der Ukraine. Bei den Debatten über die Ukraine in Russland spielt das Thema Geopolitik immer eine wichtige Rolle. Doch jetzt kommen neue Elemente hinzu. Die Zollunion bekommt eine ganz andere Dimension, wenn die Ukraine ihr beitreten würde. Ein internationales Bündnis mit einem riesigen Markt und einer diversifizierten Wirtschaft würde entstehen. Aus dieser Sicht hätte der Beitritt der Ukraine nicht nur eine geopolitische, sondern auch eine direkte wirtschaftliche Bedeutung. In diesem Punkt stimmen also die Meinungen des „alten imperialen Lagers“ und der jungen Technokraten überein. Doch dann beginnen die Auseinandersetzungen. Für die Traditionalisten ist der Anschluss der Ukraine wichtig. Für die Technokraten sind Einzelheiten wichtig. Was kann die ukrainische Wirtschaft in den gemeinsamen Korb legen (hier steigt die Skepsis, weil viele davon überzeugt sind, dass die früheren technologischen Ketten nicht wiederherzustellen sind)? Wird die Zollunion überhaupt funktionieren? Sie ähnelt in vielerlei Hinsicht der EU. Es besteht also das Risiko, dass mit dem Beitritt der Ukraine die Idee einer Union an Wert verliert, weil dieses Land bei den meisten Fragen voraussichtlich eine Blockadehaltung einnehmen wird. Deswegen muss zuerst ein funktionierender Mechanismus geschaffen und erst später die Aufnahme wichtiger Länder wie der Ukraine erörtert werden. Es ist kaum sinnvoll, weniger wichtige Länder in die Union aufzunehmen. Kandidaten wie Kirgisistan und Tadschikistan sind Mitglieder der EAWG, auf deren Grundlage die Zollunion geschaffen wurde. Bischkek hat bereits seinen Beitritt beantragt. Aus geopolitischer Sicht hat das eine gewisse Bedeutung. Aus wirtschaftlicher Sicht würde dies jedoch eher Probleme bereiten. In Russland würde der Ausbau der Beziehungen zu zentralasiatischen Ländern auf Ablehnung stoßen, zumindest in den Großstädten, wo es bereits viele Einwanderer aus dieser Region gibt. Für Arbeitszuwanderer aus den Mitgliedsstaaten der Eurasischen Union würden keine Einschränkungen gelten. Ein Einreiseverbot gegen Arbeiter aus dem Fergana-Tal bzw. Badachschan würde in diesem Fall nicht mehr möglich sein. Auch Moldawien und Armenien werden als Kandidaten gehandelt, was ebenso heftige Diskussionen auslöst. Doch Armenien ist ein isoliertes Land mit erheblichen geopolitischen Problemen. Ein Beitritt wäre einfach unmöglich. Über Moldawiens Anschluss sollte man erst nach dem Beitritt der Ukraine sprechen. Die Unterzeichnung eines Assoziationsabkommens mit der EU würde zu einer neuen Art der Wirtschaftskooperation führen. Für Traditionalisten ist es der Preis der strategischen Illoyalität. Für Technokraten eine natürliche Schutzmaßnahme vor Waren, die durch die europäischen Konkurrenten vom ukrainischen Markt nach Russland, also in die Zollunion, verdrängt werden. Bündnisse werden mit dem Ziel geschaffen, Vorteile für die Teilnehmerländer zu ermöglichen. Deswegen ist Moskau der Ansicht, dass weitere Handelsbarrieren, falls die Ukraine in die EU strebt, ein normaler Marktvorgang sind. Der größte Unterschied zwischen Russlands früherer und aktueller Position besteht darin, dass zurzeit abgewogen wird, ob der hohe Preis bei einem Beitritt der Ukraine gerechtfertigt ist. Dies schließt das frühere Vorgehen nicht aus. Die Traditionalisten melden sich immer noch lautstark zu Wort. Doch in der Realpolitik wird rational entschieden. In der Ukraine ist alles umgekehrt. Welchen Weg die Ukraine gehen soll, ist eine rein politische Frage. Niemand interessiert sich für Zahlen. Kiew hat offenbar keine guten Lösungen parat. Jede Entscheidung kann zu einer wirtschaftlichen oder politischen Krise führen. Russland wird seine Konsequenzen aus der Unterzeichnung des Assoziationsabkommen ziehen. Doch das ist nicht so einfach. Als WTO-Mitglied kann Russland kein Importverbot gegen die Ukraine verhängen. Doch Moskau kann alle Präferenzen für die ukrainischen Unternehmen streichen. Diese würden darunter leiden. Der etwas offener werdende europäische Markt wird nur einen geringen Teil davon kompensieren. Der Verzicht auf ein Abkommen mit der EU würde zur politischen Krise führen. Es würde wie eine Kapitulation vor Russland und der Verzicht auf eine unabhängige Zukunft aussehen, die in der Ukraine nur mit der EU verbunden wird (auch wenn es um die Abhängigkeit von Europa geht). Europa würde dies als Affront empfinden und die Ukraine links liegen lassen, was eine weitere Zuspitzung der Situation im Lande mit sich brächte. Die Ukraine hat sich bisher immer an den Kurs gehalten, keine Entscheidungen zu treffen. Das Abweichen von diesem Kurs führte unter Juschtschenko zum politischen Fiasko. Doch jetzt muss die Ukraine eine Entscheidung treffen. ----------------------------------------------------------------- Zentralasien als Gradmesser für imperialistische Ambitionen 02.09.2013In Russland wird häufig die Äußerung des US-amerikanischen Politologen Zbigniew Brzezinski aus den 1990er-Jahren zitiert, dass Russland nur dann ein Imperium bleiben könnte, wenn die Ukraine zu seinen Einflussbereich gehören würde. Brzezinskis Aussage wird in vielen Diskussionen über Russlands Expansionspolitik als Argument dafür oder dagegen angeführt. Mehr als 20 Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion ist die Situation um die Ukraine immer noch unklar. Allerdings wird es sich demnächst zeigen, wie es um Russlands Machtstellung in einer anderen Region steht – in Zentralasien. Als sich die einstigen Mitbegründer der Sowjetunion (Russland, Ukraine und Weißrussland) Ende 1991 für ihre Auflösung entschieden, wurden die zentralasiatischen Sowjetrepubliken ungefragt vor diese Tatsache gestellt. Als souveräne Staaten erlebten sie dramatische Ereignisse – von den Bürgerkriegen in Tadschikistan und Kirgisien bis zur orientalischen Despotie in Turkmenistan. Dennoch galten sie als Einflussgebiete Moskaus. Dabei gab es aber niemanden, der Russland als geopolitisches Zentrum im postsowjetischen Raum ersetzen wollte. Die zentralasiatischen Länder selbst schauten sich zeitweise nach weiteren Verbündeten um und ließen sich den Hof machen. Doch Russland ließ sich nicht vom Hof jagen: Andere Partner kamen und gingen, aber der Kreml war immer da. Zumal das internationale Interesse für Zentralasien vor allem mit seinen Mineralressourcen und den Rohstofftransportrouten zusammenhing, was stets den Ausgangspunkt der außenpolitischen Strategie Moskaus darstellte. 2010 verpasste Moskau vielen Experten zufolge jedoch die nahezu ideale Gelegenheit, sich als dominierende Macht in Zentralasien zu etablieren, als es auf eine Intervention im von Massenunruhen erschütterten Kirgisien verzichtete. Das 2009 gestartete Projekt zur Bildung einer Zollunion, die sich 2015 in die Eurasische Wirtschaftsunion verwandeln soll, zielt trotz ihres Namens vor allem auf die Ukraine und nicht auf ganz Eurasien ab. In Russland, vor allem in den Großstädten, werden die Stimmen lauter, sich stärker von den zentralasiatischen Ländern abzugrenzen und Einwanderungsquoten und eine Visapflicht für Gastarbeiter aus dieser Region einzuführen. Das in Europa viel diskutierte Thema Einwanderung gewinnt auch in Russland an politischer Bedeutung. Es wird nicht nur von der „nicht-systemischen“ nationalistischen Opposition aufgeworfen, sondern auch von Spitzenbeamten wie dem Moskauer Oberbürgermeister Sergej Sobjanin und von Vizepremier Dmitri Rogosin. Dieses Thema findet übrigens in den Wahlprogrammen aller Kandidaten der Moskauer Oberbürgermeisterwahl im September seinen Niederschlag. Die inneren Beweggründe sind verständlich. Angesichts der für alle Industrieländer sehr problematischen Einwanderungswellen bekommt Russlands Suche nach seiner postsowjetischen Identität einen protektionistischen (wenn nicht fremdenfeindlichen) Beigeschmack. Die Zukunftsängste eines großen Teils der russischen Bevölkerung führen dazu, dass Zuwanderer als sichtbares Zeichen der „neuen Zeit“ dafür verantwortlich gemacht werden. Aber auch die äußeren Beweggründe sind nachvollziehbar: Die imperialistischen Gefühle lassen allmählich nach, und die Entschlossenheit, etwas verloren Gegangenes zurückzugewinnen, die für die ersten Jahre nach dem UdSSR-Zerfall typisch war, wird durch die absolut vernünftige Frage abgelöst, ob diese Verluste wieder wettzumachen sind, und wenn ja, um welchen Preis. Die russische Zentralasien-Politik soll zeigen, in welche Richtung sich Moskaus Vorstellung von der eigenen Rolle in der Welt entwickelt. Die zentralasiatischen Länder befinden sich vor fundamentalen Wandlungen – die Folgen der baldigen Machtwechsel in Tadschikistan und Usbekistan sind kaum vorhersehbar (Kasachstan könnte auch erwähnt werden, aber als größeres Land ist es stabiler). Groß ist auch das Risiko von Instabilitäten im benachbarten Afghanistan, wo die US-Truppen nur bis 2014 bleiben werden. Moskau muss selbst entscheiden, ob es bereit ist, angesichts der Skepsis im eigenen Land die Verantwortung für diesen Teil der früheren Sowjetunion zu übernehmen, oder ob sich seine Ansprüche in Zentralasien nur auf Kasachstan beschränken. Eine eindeutige Antwort auf diese Fragen gibt es nicht. Die Gefahren und Kosten sind unabhängig vom künftigen Kurs ziemlich groß. Russlands Rückzug aus Zentralasien würde allerdings nicht die Ankunft einer konkurrierenden Großmacht in diesem Gebiet zur Folge haben, sondern eher „nur“ den Verlust der regionalen Führungsrolle: Tadschikistan und Usbekistan müssten dann mit den wachsenden Instabilitäten innerhalb und außerhalb des Landes zurechtkommen. Aber Russland kann sich jedoch nicht virtuell oder auch mit einem hohen Zaun abgrenzen und seine früheren „Brudervölker“ im Stich lassen - dafür sind die gegenseitigen Beziehungen noch viel zu eng (zumal viele zentralasiatische Einwanderer in Russland leben). Ein vollwertiges imperialistisches Eingreifen in Zentralasien ist jedoch nahezu ausgeschlossen: Die russische Bevölkerung wäre dagegen, zumal Erfolge in dieser speziellen Region eher fraglich sind (die Erfahrungen der USA und ihrer Nato-Partner beweisen das). Der Leiter der russischen Drogenkontrollbehörde, Viktor Iwanow, machte vor ein paar Monaten den extravaganten Vorschlag, eine Staatskorporation für Zentralasien zu gründen (es ist in Russland allgemein bekannt, wie kostspielig solche Projekte sind), um die Entwicklung dieser Region zu fördern und gleichzeitig den Zufluss von Gastarbeitern nach Russland zu bremsen. Aber die Idee selbst ist richtig: Russland muss einen Weg finden, um die Situation zu verbessern, ohne selbst in Zentralasien eingreifen zu müssen. Die Lösung dieser Aufgabe wird eine Art „Reifeprüfung“ für Russland als regionale Großmacht in der neuen, postimperialistischen Zeit. ----------------------------------------------------------------- Weltpolitische Umbrüche mit ungewissem Ausgang 11.07.2013Die Ereignisse in Ägypten halten die Weltgemeinschaft kurz vor der politischen Sommerpause weiter in Atem. In der Weltpolitik wird weiter vergeblich nach Konzepten gesucht, um die Probleme in den Griff zu bekommen. Ein exemplarisches Beispiel für das konzeptuelle Chaos ist die Absetzung des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi durch die Armee mit Unterstützung der Liberalen. Die Generäle machten gemeinsame Sache mit den Anstiftern der ersten Protestwelle auf dem Kairoer Tahrir-Platz, die später von den Muslimbrüdern in den Hintergrund gedrängt wurden. Die Legitimität geriet in Widerspruch mit der Zweckmäßigkeit. Die Demokratie stimmt nicht mehr mit ihrem Inhalt überein. Die äußeren Kräfte wissen nicht, auf welcher Seite die fortschrittlichen Kräfte stehen, die von den USA so gerne unterstützt werden. Der Bürgerkrieg in Syrien scheint sich ewig in die Länge zu ziehen. Weltweit kommt es fast allerorten zu Auseinandersetzungen zwischen Bürgern und der Autokratie, zum Zusammenprall der Religionen und zum geopolitischen Ringen der Regionalmächte. Die Großmächte versuchen, entweder davon zu profitieren und die Verluste zu minimieren oder so zu tun, als seien sie weltpolitisch weiterhin ein Schwergewicht. All diese Widersprüche sorgen nur dafür, dass sich die Konflikte verschärfen. Obwohl es grausam klingt – die syrische Gesellschaft muss sich mit diesem Krieg abfinden, den näher rückenden Zusammenbruch spüren, der in einer nationalen Katastrophe enden wird. Erst dann können Gespräche über einen Friedensprozess und ein neues politisches Modell beginnen. Vielleicht werden dabei Vermittler nötig sein. Bislang geht es den äußeren Kräften im Syrien-Konflikt darum, nicht das Gesicht zu verlieren, wobei die Beendigung des blutigen Konfliktes nicht als Ziel gilt. Derzeit ist es am wichtigsten, dass die unterstützte Konfliktseite nicht den Kürzeren zieht. Russland und die USA als vermeintliche Friedenstifter in Syrien verhalten sich sehr arrogant. Sie wollen den Eindruck vermitteln, dass von ihnen das Schicksal des Nahostlandes abhängt. Nach Jahrzehnten der Tyrannei, die später vielleicht einmal als goldene Ära angesehen werden, steht Syrien vor der endgültigen Spaltung. Äußere Faktoren spielen natürlich eine Rolle, aber die Zukunft Syriens wird vor Ort und nicht in Moskau bzw. Washington entschieden, die die Konfliktseiten an den Verhandlungstisch bringen wollen. Die EU fand in der Syrien-Frage keine gemeinsame Position. Die EU überließ es jedem Mitgliedsland, die Aufständischen mit Waffen zu unterstützen oder nicht. Die EU-Mitgliedsstaaten zeigten in der Syrien-Frage erneut ihre Unfähigkeit, Geschlossenheit herzustellen. Obwohl Europa in den vergangenen Monaten bestrebt war, enger zusammenzurücken, denkt jedes Mitgliedsland zuerst an die eigenen Interessen. Deutschland sprach Zypern das Recht auf sein Wirtschaftsmodell ab (Wolfgang Schäuble). Als sich Zypern vor fünf Jahren der Eurozone anschloss, waren alle mit diesem Modell einverstanden. Deutschland stimmte die Krisenländer Italien, Spanien und Griechenland auf schwere Zeiten und einen harten Kampf um die Zukunft Europas ein. Man kann das verstehen. Früher oder später muss jemand die Verantwortung übernehmen. Es liegt auf der Hand, dass die EU in einigen Jahren anders aussehen wird. Es wird Länder mit verschiedenen Rechten und Möglichkeiten geben. Wie ist das mit dem europäischen Grundsatz der Solidarität und Gleichberechtigung seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vereinbar? Die USA erleben Haushaltskürzungen, weil das Weiße Haus mit dem Kongress ständig über Kreuz liegt. Obwohl Obama die Wahl gewonnen hat, scheiden sich die Gemüter an ihm. Die USA suchen nach neuen Formen als Führungsmacht und bestimmen neue Prioritäten. Obamas Zurückhaltung wird von vielen als Schwäche gedeutet. Von Amerika wird erwartet, weltweit die Führungsrolle zu spielen. Obama will jedoch zuerst die eigenen Probleme lösen statt neue anzuhäufen. Angesichts der Passivität in anderen Bereichen ist die geplante Freihandelszone zwischen den USA und der EU einen Schritt weiter gekommen. Mit dem Projekt soll der politische Westen als Einheit aus der Ära des Kalten Krieges wiederbelebt werden. Ob das gelingt, ist eine offene Frage. Wenn ja, muss Russland eine neue Strategie gegenüber dem neuen Wirtschaftsriesen finden. Im Nahen Osten ist die Lage weiter angespannt. Die Unzufriedenheit weitet sich auch auf andere Regionen aus, wobei auch „rising Stars“ wie Indien, die Türkei und Brasilien davon betroffen sind. Die Gründe für die unerwarteten Proteste in diesen Ländern sind verschieden. Im Iran verliefen die Wahlen dagegen ruhig, an die Macht kam ein gemäßigter und angesehener Politiker. In China wurde der Machtwechsel mit großer Spannung erwartet. Trotz vieler gegenteiliger Befürchtungen verlief die Machtübergabe reibungslos. Russland hielt sich in dieser politischen Saison an eine eindeutige Strategie und gab seinen bisherigen Schlingerkurs auf. Präsident Putin setzte seine Wahlversprechen kontinuierlich um. Bei internationalen Fragen hielt sich der Kreml-Chef an seine Grundsätze aus seinem Wahlprogramm. Laut Putin sind weltweit unlenkbare und unvorhersehbare Prozesse im Gange, bei denen die Führungsakteure zur Irrationalität neigen und die Überbleibsel der bisherigen Weltordnung ignorieren. Wegen der globalen Vernetzungen bedrohen äußere Turbulenzen die innere Stabilität. Deswegen müsse man sich gegen äußere Einflüsse schützen, darunter gegen illegitime Softpower, wie Putin in seinem Wahlprogramm äußerte. In der russischen Gesellschaft und im Staat sind Tendenzen zur Spaltung zu erkennen. Der Konflikt zwischen dem „kultivierten“ Traditionalismus (oder seiner Nachahmung) und der fortschrittlichen Minderheit ist deutlich sichtbar. Die Macht stützt sich auf die Mehrheit, vergrault aber die aktiven Bürger. Beim Ausloten der Stimmung weltweit überwiegt das Gefühl der Gereiztheit. Die gewünschten Ergebnisse werden verfehlt. Die verschiedenen Teile der Gesellschaft kommen nicht auf einen Nenner. Diejenigen, die bis vor kurzem noch über das Schicksal der anderen bestimmten, offenbaren jetzt ihre Ohnmacht. Die USA reagieren situativ, weil eine Strategie fehlt. Europa steckt in der Krise. Die Versuche der EU, sich als Führungsmacht zu etablieren, entpuppen sich als Farce. China verhält sich passiv und befürchtet, von der allgemeinen Instabilität angesteckt zu werden. Russland wartet aufmerksam ab und begnügt sich mit einem vagen Status Quo. ----------------------------------------------------------------- USA-China: Friedliche Koexistenz 14.06.2013US-Präsident Barack Obama und der chinesische Staatschef Xi Jinping haben in dieser Woche in Kalifornien miteinander gesprochen. Ihr Treffen stand jedoch im Schatten anderer Ereignisse in der Welt. Schlagzeilen machten andere Themen, vor allem die Proteste in der Türkei und die Situation im Nahen Osten. Das amerikanisch-chinesische Gipfeltreffen in Kalifornien war alles andere als unbedeutend. Nicht zuletzt wegen seines Formats: ein Gespräch unter vier Augen. So etwas gab es zwischen Washington und Peking seit über 40 Jahren nicht mehr, als der damalige US-Außenminister Henry Kissinger Peking überzeugen konnte, auf Washington zuzugehen. Damals war das einer der Faktoren, die Washingtons Sieg im Kalten Krieg vorentschieden hatten. Auch heute wird viel über neue strategische Beziehungen gesprochen. Die Frage ist jedoch, ob sie möglich sind und in welchen Bereichen. Bis zuletzt blieb China für Obama eines der Themen, bei denen er kaum Erfolge vorweisen konnte. Seine Reise in die Volksrepublik unmittelbar nach seiner zweiten Amtseinführung endete ohne greifbare Ergebnisse. In Peking wurde der US-Präsident nicht besonders hofiert. Obama wollte eigentlich mit seinem Besuch eine neue Phase der bilateralen Beziehungen einleiten. Nach diesem gescheiterten Versuch entschied sich das Weiße Haus trotz seines zur Schau gestellten Eintretens für den Frieden für eine offensive Strategie in Asien. Peking schaute dem Treiben der Amerikaner mit Argwohn zu. Paradoxerweise ist Obamas China-Politik viel aggressiver als die seines Vorgängers George W. Bush. Bush trat sein Amt als entschlossener China-Gegner an, verwandelte sich aber mit der Zeit in einen China-Freund. Die enge wirtschaftliche Verbundenheit zwang die beiden Supermächte, sehr vorsichtig miteinander umzugehen. Nicht zufällig wurde die US-amerikanische China-Politik weder vom Außen- noch vom Verteidigungsministerium geprägt, sondern vom Finanzministerium und von Minister Henry Paulson persönlich. Unter Obama vermischte sich plötzlich alles. Zwar sind beide Länder weiterhin voneinander abhängig, aber die Weltwirtschaftskrise hat die Kehrseite dieser Abhängigkeit offenbart. Jetzt wird sie sowohl in Washington als auch in Peking nicht mehr als Segen wahrgenommen, sondern eher als Last, die beide möglichst loswerden wollen. Amerika sucht nach Wegen, um seine Status als Supermacht nicht zu verlieren – Obama ist überzeugt, dass sich etwas ändern muss. Chinas Rolle in der neuen Weltordnung ist weiterhin unklar. Alle erwarten, dass Chinas Bedeutung enorm wachsen wird. Die meisten Experten sind sich jedoch einig, dass eine globale Hegemonie nicht mit den chinesischen Traditionen vereinbar ist und ein Potenzial verlangt, das die Volksrepublik nicht hat. Hinzu kommt eine universelle Ideologie, der auch andere Länder folgen könnten. Der letzte Aspekt ist besonders wichtig, denn Chinas ideologischer Einfluss kann nur in Ost- bzw. Südostasien groß sein. Peking ist nicht in der Lage, Europa oder Amerika herauszufordern. Eine Konfrontation zwischen China und den USA ist dennoch nicht ausgeschlossen. Asien spielt die Schlüsselrolle in der Welt – von der dortigen Situation hängt die globale Entwicklung ab. Da ein Interessenkonflikt ausgerechnet vor Chinas Haustür auszubrechen droht, könnte es zu globalen Spannungen kommen. Wenn sich China gegen die US-Präsenz in Asien wehren sollte, würden die USA versuchen, Pekings Aktivitäten in anderen Regionen der Welt einzuschränken. Angesichts der weltweiten Instabilität, die immer größer wird, spüren beide Großmächte die eigene Verwundbarkeit, wenn auch unterschiedlich. China ist um die turbulente Entwicklung der Ereignisse besorgt, weil es politisch nicht isoliert ist und in der Wirtschaft von den internationalen Märkten abhängt. Die USA versuchen ihrerseits, sich aus den globalen Prozessen möglichst rauszuhalten und sich auf ihre inneren Probleme zu konzentrieren, wollen allerdings die Lage in der Welt im Auge behalten. Die Idee, sich von den außenpolitischen Belastungen zu befreien, hält zunehmend Einzug ins politische Bewusstsein der Amerikaner. Das Gespräch Obamas mit Xi Jinping bedeutet wohl keine Wende. Fundamentale und langfristige Beziehungen beider Länder sind unter den aktuellen Bedingungen objektiv unmöglich. Man kann eher von einem „Waffenstillstand“ reden, um die Verluste zu minimieren. Beide verstehen dies gut und wollen die aktuelle Situation nicht weiter verschärfen. Wie lange das noch anhält, weiß niemand. Zu einer Prüfung für die US-Politik wird die Präsidentschaftswahl 2016 werden: wahrscheinlich werden die Kandidaten entgegengesetzte Positionen zu dem weiteren außenpolitischen Kurs der USA und zur Haltung gegenüber China vertreten. In den kommenden drei Jahren können Washington und Peking aber testen, was während des Kalten Kriegs als „friedliche Koexistenz“ bezeichnet wurde. ----------------------------------------------------------------- Mit Moral ins Ungewisse Jahresbotschaft von Präs. Putin an die Föderative Versammlung Dez. 2012Quellen im Kreml hatten kurz vor Putins Jahresbotschaft an die Föderalversammlung verraten, dass die Nationale Sicherheit das Hauptthema sein wird. Diejenigen, die mit Themen wie Verteidigung und Außenpolitik gerechnet hatten, wurden enttäuscht. Zu diesen Themen äußerte sich Putin nur spärlich. Der Kreml-Chef sprach zwar über die Nationale Sicherheit, aber aus einem anderen Blickwinkel. Bereits in seinen Programmartikeln im Januar und Februar äußerte Putin in verschiedener Form ein und denselben Gedanken: Die Welt sei sehr gefährlich, unberechenbar und drohe sich zu verschlechtern. Die gegenseitige Abhängigkeit und Verflechtung sind so hoch, dass niemand sich abschotten kann. Auch Russland könne in den Sog der Instabilität geraten. Der Kreml richtet seine Politik so aus, die Turbulenzen und Risiken zu verringern. In der Außenpolitik findet dies Ausdruck in Gegenmaßnahmen gegenüber Ländern, die Moskau zufolge das Chaos nur vertiefen. Darin besteht gerade Russlands Position in Bezug auf Syrien, wenn die Situation nicht verbessert werden kann, soll sie sich zumindest nicht verschlechtern. Doch Russlands Möglichkeiten sind begrenzt. Russland ist zwar ein einflussreicher jedoch nicht der einzige Akteur. Deswegen soll in der Nationalen Sicherheit der Schwerpunkt auf Aspekte gelegt werden, die kontrolliert und beeinflusst werden können. Die Sicherheit eines Staates in der heutigen Welt wird durch die innere Stabilität und die Fähigkeit bestimmt, den äußeren Einflüssen Widerstand zu leisten. Davon ist Putin überzeugt. Beim äußeren Einfluss handelt es sich nicht um konkrete Feinde, sondern um eine gegenseitig verflochtene Umgebung. Der Präsident bestimmt die wichtigsten Parameter in den Bereichen, bei denen er einen Erfolg erwartet. Zum ersten Mal tauchten in Putins Rede so oft die Worte Moral und Sittlichkeit auf. Angesichts des jetzigen Zustandes der Gesellschaft und der Regierungselite sollen diese Begriffe wiederbelebt werden. Putin sprach viel über die bürgerliche Verantwortung, die Behörden, die unter Kontrolle stehen sollen. Er kritisierte die Schamlosigkeit der Beamten, die mit einem moralischen Beispiel vorangehen sollen. Es ist klar, allein Gespräche genügen nicht. Doch es ist auch wichtig, diese Frage zu stellen. Im Laufe von mehreren Jahren Reformen bestand Russlands Problem darin, dass die Veränderung vor allem als Wirtschaftsprojekt wahrgenommen wurde, wo das mathematische Modell wichtiger als die Werte war. Selbst heftige Diskussionen über die europäischen Werte verliefen in der politischen und geopolitischen Dimension. In der Jahresbotschaft wurden mehrmals die Probleme in den Bereichen Kultur und Bildung erwähnt. Viele kritisieren die sich ständig ändernden Ideen über Innovationen in der Bildung, die vor allem die Optimierung der Ausgaben und Institute vorsehen. Die quantitativen Parameter sind also wichtiger als die qualitativen. Putin betonte, dass die Restrukturierung sehr wichtig und Fortschritt ohne Wandlungen nicht zu erreichen sei. Zugleich seien soziale und humanitäre Aspekte wichtig. Der Präsident sprach über sein Lieblingsthema: die Demografie. Er erinnerte daran, dass es mehr Russen geben muss. Die menschlichen Ressourcen bilden die wichtigste Grundlage der Souveränität und sind äußerst wichtig. Putin führte einen neuen Begriff ein: das geopolitische Gewicht Russlands, das vergrößert werden soll. „Russland muss von unseren Nachbarländern und Partnern nachgefragt sein. Das ist für uns sehr wichtig. Das betrifft unsere Wirtschaft, Kultur, Wissenschaft, Bildung, Diplomatie und vor allem die Fähigkeit, gemeinsame Schritte auf der internationalen Bühne zu unternehmen… Das betrifft nicht zuletzt unsere militärische Stärke, die Garant der Sicherheit und Unabhängigkeit Russlands ist“, sagte Putin. „Wir müssen nur nach vorne, nur in die Zukunft blicken“, so Putins Motto. Bereits in seinen Programmartikeln betonte er, dass die postsowjetische Ära vorbei sei. Es ist kein Geheimnis, dass es in den 20 vergangenen Jahren seit dem Zerfall der Sowjetunion um ein Erstarken Russlands ging, was sowohl Vor- als auch Nachteile hatte. Jetzt betont Putin, dass Russlands Geschichte nicht 1917 und nicht 1991 begann. Die russische Nation kann sich auf eine tausend Jahre lange Geschichte stützen. Bereits zum zweiten Mal sagte Putin in einer Rede, dass Russland der Opfer des Ersten Weltkrieges ehrenvoll gedenken müsse, die in der sowjetischen Geschichtsschreibung vergessen wurden. Putins Worte lassen hoffen, dass die russische Gesellschaft neue historische Fakten beim Finden der eigenen Identität verwenden wird. Putin sprach auch über die Bedeutung der russischen Sprache und der russischen Kultur als vereinigenden Faktor. Dies verstand sich immer von selbst. Doch mit dem Verschwinden des imperialistischen Selbstbewusstseins könnten die Probleme der Selbstidentität zu Instabilität führen. Wie während seines Wahlkampfes kritisierte Putin Nationalismus und Chauvinismus als zerstörerische Erscheinungen. Ausgerechnet in diesen Bereichen drohen Russland die größten Herausforderungen. In den kommenden Jahren soll das Augenmerk auf die ethnischen und religiösen Auseinandersetzungen gerichtet werden. Laut Putin ist es unzulässig, Russland demokratische Formen überzustülpen und Länder am politischen Leben Russlands beteiligen zu lassen, die nur finanzielle Interessen haben. Entgegen vielen Erwartungen hielt sich Putin diesmal allerdings mit scharfer Rhetorik zurück. Putin sagte, dass bei einem kläglichen Zustand der Gesellschaft kein Feind nötig sei. Alles werde von selbst zerfallen. Damit wich er vom bisherigen Kurs ab, einen Schuldigen für den Zerfall der Sowjetunion zu suchen. Die Botschaft des russischen Präsidenten ist der Auftakt zu einer neuen Phase. Die Fragen wurden sehr präzise formuliert. Ob es Antworten gibt, wird bald klar sein. ----------------------------------------------------------------- Wie Russland die Welt sieht Neues aussenpolitisches KonzeptAuf Russlands neue „außenpolitische Konzeption“ hatte man lange und ungeduldig gewartet – immer wieder kam es zu Verzögerungen. Revolutionär ist sie nicht, gibt jedoch eine klare Vorstellung von der Weltanschauung des Kreml. Das ist das erste derartige Dokument seit vielen Jahren, in dem der Begriff „Kalter Krieg“ kein einziges Mal mehr vorkommt. Früher hatte man immer auf seine Folgen verwiesen, um aktuelle Probleme zu rechtfertigen. In den frühen 1990er-Jahren schien das offenbar angebracht, mutete mit der Zeit aber immer mehr als eine Ausrede an. 20 Jahre nach dem Ende des Kalten Kriegs wird klar: Russlands Schwierigkeiten sind auf etliche Widersprüche zurückzuführen, die jedoch nur zum Teil mit der früheren Konfrontation mit dem Westen zusammenhängen. Im Dokument steht festgeschrieben, dass „die Gefahr der Entfachung eines umfassenden Kriegs, darunter eines Atomkriegs“, gesunken sei. Das ist sehr wichtig, denn der Kreml denkt bisweilen immer noch in den Kategorien der großen Kriege im 20. Jahrhundert. Die Anerkennung der Tatsache, dass Risiken und Gefahren heute anders aussehen als vor mehreren Jahrzehnten, spricht für sich. Damit räumt die russische Führung ein, dass nicht nur die nationale Verteidigung, sondern auch die allgemeinen Beziehungen zu anderen Ländern anders als früher gestaltet werden sollten. In dem außenpolitischen Papier wird darauf verwiesen, dass „die Versuche zum Aufbau von einzelnen „Sicherheitsoasen“ angesichts der globalen Turbulenzen und der immer größer werdenden gegenseitigen Abhängigkeit verschiedener Staaten und Völker aussichtslos sind.“ Nur die Einhaltung von allgemeingültigen Prinzipien der gleichen und unteilbaren Sicherheit im euroatlantischen, eurasischen und asiatisch-pazifischen Raum könne die Welt vor Erschütterungen schützen. Das ist im Grunde die Antwort auf die in Russland durchaus populäre These, dass eine Absonderung von anderen Ländern positiv für die Schaffung von guten Lebensbedingungen im eigenen Land sein könnte. In der heutigen Welt ist so etwas aber nicht zu bewerkstelligen. Ein wichtiger Abschnitt des Dokuments ist der so genannten „Zivilisationsdimension“ der globalen Konkurrenz und der „Rivalität verschiedener Wertesysteme und Entwicklungsmodelle im Rahmen der universalen Prinzipien der Demokratie und Marktwirtschaft“ gewidmet. Diesen Punkt gab es auch in früheren offiziellen Dokumenten zum Thema Außenpolitik, aber jetzt hat er einen speziellen Sinn. In der russischen Politik neigt sich die Zeit des absoluten Pragmatismus ihrem Ende zu. Es beginnt die Suche nach einem neuen Ideen- und Wertekanon. Dass die Regierenden die Bedeutung eines solchen Fundaments anerkennen, ist ein positives Zeichen. Die Verfasser der Konzeption stellen fest, „dass die Kehrseite der Globalisierungsprozesse die immer größere Bedeutung der Zivilisationsidentität ist.“ Auffällig ist, dass die Ereignisse des arabischen Frühlings von 2011 als „Sehnsucht nach den eigenen Zivilisationswurzeln“ dargelegt werden. Die „politische und sozialwirtschaftliche Erneuerung der Gesellschaft“ verlaufe in den Regionen „häufig im Vorzeichen des Erstarken der islamischen Werte“, steht in dem Dokument. Da in Russland die Meinung vorherrscht, dass die Ereignisse im Nahen Osten und in Nordafrika von den USA geschürt worden sind, ist eine solche Einschätzung der Situation mutig, aber auch angemessen. Zum ersten Mal wurde in der außenpolitischen Konzeption der Begriff „Soft Power“ genannt – bis zuletzt hatte Russland diese im Westen seit den frühen 1990er-Jahren bekannte Erscheinung ignoriert. Zum ersten Mal wurde der Begriff vor einem Jahr von Wladimir Putin im Präsidentenwahlkampf in Umlauf gebracht, der dessen große Bedeutung verstanden hatte. In Russland wird dabei allerdings vor allem Propaganda gemeint, während die „Soft Power“ in Europa und Amerika vor allem als ein Mittel wahrgenommen wird, das gesellschaftspolitische Modells attraktiv zu machen. Dass man aber in Moskau überhaupt Wert auf „Soft Power“ legt, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Denn bis zuletzt neigte der Kreml zur traditionellen „Hard Power“, weshalb sein Repertoire deutlich kleiner war. Als negative „Soft Power“ werden in dem Dokument die Aktivitäten der ausländischen Nichtregierungsorganisationen (NGO) bezeichnet, denen Putin früher vorgeworfen hatte, die innenpolitische Situation in Russland zu destabilisieren. Neu ist das Thema Informationssicherheit. Früher hatte man in Moskau diesen Aspekt vernachlässigt, legt jetzt aber zunehmend mehr Wert darauf. Einer der Schwerpunkte sei „die Erweiterung des rechtlichen Rahmen der internationalen Kooperation zwecks eines zunehmend besseren Schutzes der Rechte und legitimen Interessen der russischen Kinder im Ausland“. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Bereitschaft des Kreml, die Beziehungen zu Georgien „auf Gebieten, wo die georgische Seite dazu bereit ist – allerdings unter der Berücksichtigung der politischen Realität in Transkaukasien“ - zu normalisieren. Mit anderen Worten: In Moskau geht man davon aus, dass die Souveränität Südossetiens und Abchasiens unantastbar ist. Zu den Prioritäten Russlands in Europa gehören dem Strategiepapier zufolge Deutschland, Frankreich, Italien, die Niederlande sowie Großbritannien. Weltweit gehört auch die Antarktis zum Interessenbereich Russlands. Die Rangliste der außenpolitischen Prioritäten hat sich nicht verändert: Im Vordergrund steht nach wie vor der postsowjetische Raum, diesmal aber als Eurasische Wirtschaftsunion. Ihr folgen die GUS, Europa und Amerika. Erst dann kommt Asien. Allgemein lässt sich Russlands außenpolitische Konzeption des Jahres 2013 als eindeutiger Abdruck der Weltsicht des Kreml bewerten. Das ist zwar keine tiefgreifende Strategie, aber das ist auch richtig so: Bei der aktuellen Konstellation in der Welt ist eine langfristige Planung schlichtweg unmöglich und sinnlos. ----------------------------------------------------------------- Glückspilz Russland Neue MachtzentrenUm Russlands Image im Ausland ist es derzeit nicht zum Besten bestellt. Der kuriose Skandal um eine taktlose Aktion der Punkband Pussy Riot in der Moskauer Christi-Erlöser-Kathedrale, der normalerweise nach wenigen Tagen in Vergessenheit geraten wäre, hat sich in einen ideologischen Konflikt von internationaler Tragweite verwandelt. Eine Reihe von Gesetzen (über Kundgebungen, Nichtregierungsorganisationen u.a.), die zu Beginn des Sommers angenommen wurden, vermittelt den Eindruck, dass der Kreml die Zügel anzieht. Die Unnachgiebigkeit bei der Syrien-Frage löste Diskussionen über den antiwestlichen und antiamerikanischen Kurs Russlands aus. Jedes der Themen muss gesondert beleuchtet werden. Der Skandal um Pussy Riot ist ein Symptom dafür, dass das (psychologische, intellektuelle, kulturelle) sowjetische Erbe zusammen mit Vorstellungen, Sympathien und Antipathien aus der Vergangenheit aufgebraucht ist. Russland sucht derzeit nach seiner Selbstidentität für die Zukunft. Ultrakonservative und ultraliberale Ansichten prallen aufeinander. Es beginnt ein schmerzvoller Prozess der Suche nach einer neuen Identität, einem Konsens, auf dem sich die russische Gesellschaft entwickeln soll. Die Ansichten über Russland und seine Rolle sind zweigeteilt. Für die einen bedeutet Putins Rückkehr in den Kreml die endgültige Errichtung eines autoritären Machtmodells mit einem innenpolitischen Reformstau und einem antiwestlichen Expansionismus in der Außenpolitik. Russland wird dabei als Weltmacht auf dem absteigenden Ast mit gekränktem Stolz, einer rasant schrumpfenden Bevölkerungszahl, grassierender Korruption und einer unausgewogenen Rohstoffwirtschaft dargestellt, die durch einen äußeren Schock zusammenstürzen kann. So ein Land kann zwar gefürchtet, aber auch ignoriert werden, weil es im Grunde zu nichts fähig ist. Andere sehen Russland trotz vieler Nachteile auf einem erfolgreichen Weg, vor allem angesichts des in der Krise steckenden Europas. Russland ist für Europa zwar ein sehr schwieriger, jedoch ein wichtiger Partner, dessen Ressourcen und Potential angesichts der wachsenden Konkurrenz den Erfolg der gesamten westlichen Welt sichern können. Russlands zahlreiche Probleme, die für die Verfechter des ersten Standpunktes fatal sind, werden von den Vertretern des zweiten als zulässig für ein Land in dieser Entwicklungsphase angesehen. Trotz der zahlreichen Probleme im Zuge der Transformation wird an diesem Weg selbst nicht gezweifelt. Russlands Gesellschaft ist eine sehr schwierige und vielschichtige, in der für fast alle Hypothesen eine Bestätigung gefunden werden kann. Interessant ist, inwieweit die Urteile über Russland nicht durch die Analyse von dessen Zustand, sondern durch die westliche Wahrnehmung geprägt sind. Die Hauptfrage ist wohl, ob wir Augenzeugen einer historischen Wende von der Ära der westlichen Dominanz in der Weltpolitik zu einer neuen Weltordnung werden, in der der Westen nicht mehr die globale Führungsmacht, sondern nur ein wichtiger Akteur ist. Der Westen wird nicht so stark vom Auftauchen einer Systemalternative, sondern von der demografischen, kulturellen, geistigen Expansion der nicht-westlichen Welt bedroht. Das Paradox besteht darin, dass die „Westernisierung“ der Welt nach dem Zerfall der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges, die fast als Zeichen für das Ende der Geschichte angesehen wurde, entgegengesetzte Ergebnisse brachte. Die Befreiung von der ineffizienten sozialistischen Wirtschaft und der Wirtschaftsaufschwung in den Ländern der Dritten Welt haben zwar ihre Rolle und Bedeutung in der internationalen Gemeinschaft erhöht, sie jedoch nicht in einen Teil des Westens verwandelt. Es entstand hingegen ein ernstzunehmender Konkurrent, von dem die Global Player wirtschaftlich immer mehr abhängen. Die Abhängigkeit ist beiderseitig zu erkennen. Den Stärkeren fällt es schwer, dies zu akzeptieren. Russlands Phänomen besteht darin, dass seine Kraft und sein Einfluss nicht so sehr auf die Erfolge des politischen Modells, sondern viel mehr auf dessen Krise und Verfall zurückzuführen sind, was nach dem Ende des Kalten Krieges als das einzig richtige galt. In den vergangenen zwölf Jahren führte Moskau eine kalkulierte und ziemlich erfolgreiche Politik durch und machte relativ wenig Fehler. Doch dieser relative Erfolg kam nicht dank der Anstrengungen Russlands (Wirtschafts- und Militärreformen, Investitionen in das Image u.a.) zustande. Russland hatte Glück, weil seine Rohstoffe in der Welt gefragt waren. Doch eine wichtigere Rolle spielte die Instabilität, die zugenommen hatte, ausgelöst durch die verantwortungslosen Militäreinsatze der USA und die Euro-Krise, die eine neue weltweite Finanzkrise herbeiführen kann. Alles begann mit dem Versuch, die Weltordnung zu festigen, die jetzt ins Wanken geraten ist. Die gereizten Reaktionen auf Russland hängen damit zusammen, dass es der größte Begünstigte der undurchdachten Politik des Westens ist. Trotz seiner Mängel gehört Russland aufgrund seines Atomarsenals, seiner Naturressourcen, der politischen Hebel und seines diplomatischen Geschicks neben China und den USA zu den drei einflussreichsten Weltmächten und wird zum Königsmacher. Der Anschluss an die westliche Welt würde Russlands Rolle angesichts des Aufstiegs neuer Mächte jenseits des Westens festigen. Russland ist historisch und kulturell in der Lage, sich dem nicht-westlichen Pol anzunähern, was den Westen schwächt. Deswegen entstehen um Russland so viele Diskussionen. Dies bedeutet für Russland nicht nur viele Möglichkeiten, sondern auch eine große Verantwortung. Erstens ist jede Wahl sehr schwierig, zumal es sich um eine historische Wahl handelt. Zweitens sollen Glück und günstige Umstände nicht als eigener Verdienst angesehen werden. Russland darf sich nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen. Die Umstände und die Konjunktur ändern sich schnell. ----------------------------------------------------------------- Welt ohne den WestenSpricht man über Russlands außenpolitischen Kurs, dann wird üblicherweise die Frage gestellt, ob er pro- oder anti-westlich ausgerichtet ist. Doch die Welt befindet sich im Wandel: Das bisherige Koordinatensystem „Westen und Rest der Welt“ hat sich verschoben. Den Westen als eine politische Gemeinschaft, an die Russland sich gewohnt hatte, gibt es nicht mehr. Übrig geblieben ist lediglich der gemeinsame kulturelle und historische Raum, der sich mit den demografischen Wandlungen in der Alten und Neuen Welt allmählich auch verändern wird. Ein enges politisches Bündnis war ohnehin nur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorhanden. Zuvor hatten die westlichen Staaten etliche Kriege gegeneinander ausgefochten. Erst die Vernichtung des Nazismus und die aus der Sowjetunion kommende kommunistische Gefahr bewegten die fast schon ewigen Feinde wie Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Spanien, die USA usw. endlich dazu, sich zusammenzuschließen. Als Basis dafür galt angeblich das gemeinsame Wertesystem. Undemokratische Machtsysteme in Ländern wie Spanien, Portugal, der Türkei oder Südkorea hinderten sie nicht dabei, in einer Reihe mit den wahren demokratischen zu stehen, als es darum ging, der „roten Gefahr“ Widerstand zu leisten. Der Gerechtigkeit halber muss allerdings gesagt werden, dass das Zusammenwirken mit den Autokratien für die USA und die „fortgeschrittenen“ Europäer immer ein Dilemma war, weshalb sie in den 1970er Jahren Reformen in diesen Ländern massiv unterstützten. Egal wie, aber mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist der wichtigste Faktor verschwunden, der den Westen jahrzehntelang zusammengehalten hatte. Als die erste Euphorie vom Sieg der westlichen Werte gegen Ende des 20. Jahrhunderts verflogen war, stellte sich auf einmal heraus, dass die westlichen Staaten kaum etwas als Kitt hatten. Europa und Amerika haben nicht nur unterschiedliche Interessen, sondern befinden sich auf unterschiedlichen „Etagen“ der Weltpolitik. Die USA orientieren sich als einzige Supermacht an ihrer globalen Strategie und projizieren ihre Kraft auf die ganze Welt. Europa muss sich auf seine Probleme konzentrieren und seine Ambitionen auf die Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse beschränken. Deshalb liegt der Schwerpunkt auf Länder und Regionen, die unmittelbar an Europa grenzen. Die Unterschiede der strategischen Horizonte beeinflusst auch die politische Mentalität – während sich die USA traditionell auf ihre Macht stützen, bevorzugt die Alte Welt eine Art „soft power“. Dabei haben beide große Probleme. Die Amerikaner waren nicht gerade erfolgreich bei ihren Militäreinsätzen in Afghanistan und im Irak. Europa verliert derweil wegen der schweren Schuldenkrise zunehmend an Attraktivität. Die Nato als transatlantisches Militärbündnis beteuert ständig ihre große Bedeutung. Dennoch gab es zuletzt keine einzige Mission, die eindeutig von dem Zusammenhalt Amerikas und Europas gezeugt hätte. Im Nahen Osten stimmen ihre Interessen mehr oder weniger überein. Amerika will dort seine globale Dominanz untermauern, für Europa ist diese Region eine wichtige „Tankstelle“. Eine Eskalation im Fernen Osten stimmt die Europäern allerdings kaum enthusiastisch, während die Amerikaner Asien als wichtigsten Schauplatz im Wettstreit der Supermächte betrachten. Angesichts dessen gibt es den „alten“ Westen nicht mehr, sondern nur Europa, die USA, Japan, Südkorea usw., wobei alle ihren eigenen Interessen und außenpolitischem Kurs folgen. Die Amerikaner legen viel Wert auf die strategischen Beziehungen, vor allem im Atombereich und in den Fragen der globalen Sicherheit. Die Wirtschaft spielt für sie eine geringere Rolle. Die Europäer wollen dagegen möglichst enge Wirtschaftskontakte und wären bereit, das Thema Sicherheit zu vernachlässigen. Die Türkei als aufstrebende Regionalmacht ist historisch mit Europa verbunden. Außerdem spielt sie als Transitland eine große Rolle bei der Energieversorgung Europas sowie im „Great Game“im Nahen Osten und im postsowjetischen Raum. Japan und die anderen asiatischen Partner der USA könnten potenziell dem immer größeren Einfluss Chinas widerstehen und sich an der Entwicklung Sibiriens und des Fernen Ostens beteiligen. Alle diese Faktoren schließen einander nicht aus, sondern ergänzen sich. Auch die Begriffe „Osten“ bzw. „Asien“ haben inzwischen ihre ursprüngliche Bedeutung verloren. Asien ist schon lange keine Entwicklungsregion mehr, wie es in Russland bisher immer wahrgenommen wurde, sondern kann sich zum Machtzentrum entwickeln. Die Beziehungen zu Peking sind für Moskau wohl die wichtigste Aufgabe für die kommenden Jahre. Ein neues Modell ist dringend notwendig, denn China ist gegenüber Russland in vielerlei Hinsicht erstmals stärker geworden. Der Kreml muss deshalb das richtige Gleichgewicht zwischen positiven Beziehungen zu Peking und dem Kampf gegen die absolute Abhängigkeit von ihm finden. Dabei sollte das eine ganz selbstständige Richtung der russischen Außenpolitik sein, egal wie sich die Beziehungen zu Amerika entwickeln sollten. (In Moskau macht man leider oft beide Aspekte voneinander abhängig.) Die Bedeutung des postsowjetischen Raums im Zusammenhang mit den geopolitischen Schlachten ist inzwischen auch nicht mehr so groß. Einerseits haben die Großmächte zu viele eigene Probleme, um auf die Schwierigkeiten der einstigen Sowjetrepubliken zu achten. Andererseits sind beispielsweise die mit der Zukunft Afghanistans verbundenen Risiken dermaßen groß, dass die Großmächte sich überlegen sollten, ihre Aktivitäten nicht gegeneinander ausrichten, sondern bündeln sollten. Nach dem Abzug der US-Truppen aus Afghanistan im Jahr 2014 wird in Zentralasien zweifelsohne ein großes Sicherheitsvakuum entstehen, das dringend gefüllt werden muss. Russlands Versuche, eine regionale Strategie im Rahmen der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) zu entwickeln, sind bislang nur Stückwerk gewesen. In der heutigen Welt sind die Grenzen fließend – egal ob ideologisch oder geopolitisch. Für Russland, seine transkontinentale Lage und seine entsprechenden Interessen in diesem Raum ist es lebenswichtig, frei handeln zu können und dabei flexibel zu sein, um mit verschiedenen Partnern effektiv kooperieren zu können. Moskau braucht jetzt weder eine pro- noch eine anti-westliche Politik, zumindest solange kein neues stabiles System der internationalen Beziehungen entstanden ist. Das scheint derzeit noch außer weit entfernt zu sein. ----------------------------------------------------------------- Warum Russland den Europarat ignoriertDie jüngste Tagung der Parlamentsversammlung des Europarats (PACE) war von neuen Kontroversen zwischen Moskau und Straßburg begleitet. Das ist natürlich keine Nachricht an sich, denn seit dem Beitritt Russlands zum Europarat im Jahr 1996 gab es immer wieder Streitigkeiten. Während des Tschetschenien-Kriegs kam es fast zu einer Trennung: Die Europäer versprachen, der russischen Delegation das Wort zu entziehen oder gar Russland aus dem Europarat auszuschließen. Moskau drohte mehrmals, der PACE den Rücken zu kehren. In diesem Fall würde die Parlamentsversammlung jedoch Russland als wichtigen Beitragszahler verlieren. Die Kontroversen gehören mittlerweile zum Programm, und die daran beteiligten Personen und Organisationen haben letztendlich eine gewisse Balance zwischen öffentlichen Auseinandersetzungen und der Suche nach Kompromissen hinter den Kulissen gefunden. Doch es hat sich etwas spürbar geändert. Früher bestand Russland darauf, der Organisation zu Recht anzugehören, die für die Menschenrechte steht. Mittlerweile geht Moskau jedoch deutlich auf Distanz. Davon zeugen nicht nur die Absage des PACE-Besuchs des Vorsitzenden der Staatsduma (Parlamentsunterhaus), Sergej Naryschkin, und Moskaus negative Reaktion auf den „anti-russischen“ Bericht, der in der PACE-Sitzung diskutiert wurde. Der Sprecher von Präsident Wladimir Putin, Dmitri Peskow, sagte: „Wir halten solche Formulierungen und Aufrufe für unangebracht und werden sie natürlich nicht berücksichtigen.“ „Werden sie natürlich nicht berücksichtigen…“ Das ist zweifelsohne ein neuer Ton. Die Aussage klang gelassen und abfällig. Früher hatte Russland die Kritik der Europäer zurückgewiesen, dabei aber sein Interesse an einer Zusammenarbeit, an der Suche nach akzeptablen Formulierungen und diplomatischen Lösungen gezeigt. Moskaus neuer Kurs hat mehrere Ursachen. Der Europarat befindet sich in einer anderen Situation als früher. In Europa und der Welt kriselt es. Einen Geldgeber wie Russland will das Gremium nicht verlieren: Auf Russland entfielen 2011 mit mehr als 34 Millionen Euro zwölf Prozent vom Etat des Europarates. Wenn man bedenkt, wie viel Geld Zenit St. Petersburg für den brasilianischen Stürmer Hulk bezahlt hat, sind das Peanuts. Für europäische Organisationen ist das aber eine beträchtliche Summe, zumal der Generalsekretär des Europarats, Thorbjörn Jagland, einräumen musste, dass wegen Geldmangels der Gürtel enger geschnallt werden muss. In Moskau ist man sich dessen bewusst. Russland ist einer der wenigen liquiden Staaten der Welt und macht sich keine Sorgen um die weiteren Beziehungen mit dem Europarat. Nicht umsonst wurde die einzige Maßnahme (keine Empfehlung), die im PACE-Bericht erörtert wurde – Russlands Verpflichtungen vom Europarats-Ministerkomitee zu kontrollieren – abgelehnt. Aber es gibt einen weiteren Grund: Russland hat die schweren Zeiten nach dem Zerfall der Sowjetunion überstanden und sucht nach einer neuen Identität. Moskau will offenbar seine Grenzen ausloten und zeigt dabei ein Faible für Traditionalismus. Im Unterschied zu Europa, dessen Stabilität auf der Abkehr von veralteten Dogmen beruht und das moralisch und kulturell immer flexibler wird, setzt Russland mit seiner Neigung zu „Moral und Geistigkeit“ bei manchmal übertriebenem Respekt vor der Kirche offenbar auf ein anderes Modell. Der Europarat warf Russland vor, pragmatisch und nahezu zynisch zu sein und „traditionelle Werte“ zu ignorieren. Russlands politisches System rückte in den Fokus. Es war alles andere als ideal, aber das Land entwickelte sich unter Berücksichtigung der demokratischen Richtlinien Europas. Russland wollte aber eben so wahrgenommen werden. Jetzt haben die Seiten allerdings die Rollen getauscht: Die PACE redet von der Politik und Moskau von traditionellen Werten, die sich allerdings von denen unterscheiden, die der Europarat stets propagierte. Zumal die europäische Toleranz manchmal absurd wirkt: Die Nominierung der umstrittenen Punkband Pussy Riot für den Martin-Luther-Preis sorgte selbst in der Evangelischen Kirche in Deutschland für Empörung. Russland hat das schwere Erbe der 1990er-Jahre immer noch nicht verarbeitet. Moskau kennt die Zeiten noch zu gut, als es sich ständig rechtfertigen musste. Mit dem Affront gegen den Europarat und die US-Hilfsorganisation USAID hat sich Russland zwar revanchiert, hätte dies aber auch früher tun können bzw. müssen. Dasselbe gilt für die jüngste Entscheidung, das von Washington finanzierte Nunn-Lugar-Programm zur Entsorgung von Atom- und anderen Waffen nicht fortzusetzen. In den 1990er-Jahren, als Russland kein Geld hatte, war dieses Programm enorm wichtig, heute nicht mehr. Russland sei kein Entwicklungsland mehr, das man belehren müsse, verlautet es aus dem Kreml. Daran ist etwas Wahres. Aber der Begriff „Entwicklung“ hat immerhin zwei Bedeutungen: Aus politischer Sicht sind das Länder, die ihre Wirtschaftsprobleme lösen müssen. Im allgemeinen Sinne ist „Entwicklung“ ein Synonym für „Fortbewegung“. Die erste Bedeutung lehnt Moskau ab. Wichtig ist dennoch, die Fähigkeit zur Fortbewegung nicht zu verlieren. ----------------------------------------------------------------- Europa erfindet sich neu Einmal-Steuer-Entscheidung in Zypern
Bei der Zypern-Rettung handelt es sich nicht um einen Machtkampf zwischen Moskau und Brüssel. Zypern stand nicht vor der Wahl – entweder Russland oder die EU. Zypern bleibt ein Teil des politischen und wirtschaftlichen Systems Europas, auch wenn es die Eurozone verlassen muss und nach neuen Partnern suchen wird. Moskau wusste genau, dass es als Retter des pleitebedrohten Inselstaates die Beziehungen zur EU und Deutschland aufs Spiel setzt. Außerdem bestand das Risiko, viel Geld zu verlieren. Russland hätte aufgrund der EU-Mitgliedschaft Zyperns ohnehin nicht die besten Vermögenswerte der Inselrepublik bekommen, weil Brüssel dies verhindert hätte. Deswegen war Moskaus abwartende Haltung äußerst vernünftig. Russland ist nicht daran interessiert, dass Zypern als Finanzplatz der russischen Wirtschaft Bankrott geht. Dabei geht es nicht um Schwarzgeld, sondern um Mängel im russischen System, weshalb Finanztransaktionen häufig über Offshore-Unternehmen abgewickelt wurden. Russland spielte unfreiwillig eine wichtige Rolle bei der Lösung der Zypern-Krise. Die auf der Insel ansässigen russischen Unternehmen veranlassten die Geldgeber dazu, drastischere Forderungen zu stellen. Bei einem anderen EU-Land wäre mit Sicherheit keine Zwangsabgabe auf die Bankguthaben gefordert worden. Doch wegen der angeblich schmutzigen Gelder aus Russland wurden Maßnahmen getroffen, die man zuvor nicht gewagt hätte. Verluste werden nicht die fairen Europäer, sondern ausländische Kriminelle erleiden. Das Vorgehen der EU während der Zypern-Rettung bewies einmal mehr, dass der „strategische Partner Russland“ immer noch mit Argwohn beäugt wird. Deutschland, das die russischen Interessen in Europa bislang immer verteidigt hatte, stand an der Speerspitze der neuen Strategie. Das zuletzt vieldiskutierte Image Russlands ist zu einem materiellen Faktor geworden, der wirtschaftliche und politische Fragen beeinflusst. Die Bedeutung des Falls Zypern besteht nicht in der Überlegung der Schuld für verantwortungslose Politik auf private Bankkunden. Erstmals wurde ein souveräner Staat dazu gezwungen, nicht nur seine Wirtschaftspolitik zu ändern, sondern gänzlich sein Wirtschaftsmodell aufzugeben. Bei Zypern geht es nicht darum, die Finanzen zu sanieren und den Gürtel enger zu schnallen. Laut den deutschen Behörden ist das zyprische Modell nicht lebensfähig. Deshalb stellte die EU den Zyprioten ein knallhartes Ultimatum, obwohl die benötigten 17 Milliarden Euro im Vergleich zu den hunderten Milliarden Euro für Griechenland und andere Problemländer ein Tropfen auf dem heißen Stein sind. Die Architekten der EU-Politik haben offenbar begriffen, dass ohne einen radikalen Umbau des Systems ein Zusammenbruch nur noch eine Frage der Zeit ist. Später wird es unmöglich sein, das Konstrukt mit kosmetischen Maßnahmen zu erhalten. Zudem war Zypern ein Testballon – entweder werden die Forderungen der Geldgeber (also Deutschlands) erfüllt, oder Europa stürzt Zypern in den Abgrund. Mit dem Fall Zypern wurde ein Exempel mit einer Warnung an EU-Länder statuiert, sich den Anweisungen aus Brüssel und Berlin unterzuordnen. Deutschlands Vorgehen ist verständlich. Die Fehler bei der EU-Erweiterung in den 2000er-Jahren können nicht ständig nachgebessert werden. Doch der Unmut über das deutsche Diktatist groß und wird zunehmen, weil Deutschland langsam aus dem Schatten tritt, in dem es sich seit Mitte des 20. Jahrhunderts befand. Wie die Zukunft der EU aussehen wird, ist schwer vorherzusagen – entweder rücken die Kernländer zusammen, oder die europäische Gemeinschaft zerfällt in zwei Lager. Dass Europa am Scheideweg stehen wird, lässt sich bereits erahnen. Von der Situation in der EU hängen ebenfalls die russischen Pläne ab. Während der Zypern-Krise wurden zwei Seiten des Verhältnisses zwischen Russland und der EU deutlich – eine enge gegenseitige Abhängigkeit und das Fehlen von Mechanismen für ein normales Zusammenwirken. Obwohl es viele formelle Institutionen der Zusammenarbeit gibt, waren beide Seiten im Krisenfall nicht in der Lage, Spannungen zu vermeiden. Die in den vergangenen 20 Jahren entstandenen Verbindungen müssen mit neuem Inhalt gefüllt werden. Es gibt jedoch die Hoffnung, dass neue Institutionen in der Zusammenarbeit zwischen Russland und der EU entstehen, die den künftigen Interessen beider Seiten entsprechen und Fortschritte nicht nur imitieren, wie es bislang häufig der Fall war. ----------------------------------------------------------------- Gemeinsamkeiten und Unterschiede Russland-USA
Aber auch in der Außenpolitik muss sich der US-Staatschef auf schwere Zeiten gefasst machen: Von seinem Geschick bei der Regelung von internationalen Krisen hängt die Bewertung seiner Rolle in den USA und der Welt ab. Wie auch für alle seine Vorgänger ist für Obama die These von der globalen Führungsrolle der USA ein Axiom. Im Unterschied zu seinen republikanischen Gegnern, die glauben, Washington müsste nur zuschlagen und würde dann seine verlorenen Positionen zurückerobern, weiß Obama, dass sich die Welt gewandelt hat. In einer multipolaren Welt kann überforsches Auftreten eher negative Folgen haben. Deshalb geht der US-Präsident vorsichtig vor, um die Risiken zu minimieren. Seine Gegner interpretieren dieses Vorgehen jedoch als Schwäche. Obama ist kein Anhänger einer offenen Hegemonialpolitik und einer aggressiven Einmischung in die Angelegenheiten anderer Länder. Aber auch er konnte solche Schritte während seiner ersten Amtszeit mitunter nicht vermeiden – Amerika bleibt eben Amerika. Generell setzt Obama auf die Diplomatie und schätzt internationale Institutionen, dank denen Washington die mit der Lösung von weltweiten Krisen verbundenen Probleme zum Teil loswerden kann. Und schließlich glaubt Obama an Vereinbarungen mit Ländern, die nicht zu den Verbündeten der USA gehören. Falls Chuck Hagel tatsächlich zum Verteidigungsminister ernannt wird, rückt eine Person in seinen engsten Kreis auf, die auf Gespräche mit den Feinden der USA wie Iran, Hamas, Hisbollah usw. setzt. Das Weiße Haus hat bereits seine Pläne zum vorzeitigen Truppenabzug aus Afghanistan verkündet (dafür wurde es von vielen heftig kritisiert), wo nur ein kleines Kontingent bleiben soll. Obamas erste Amtszeit hat allerdings gezeigt, dass eine angemessene Wahrnehmung der Realität noch nicht bedeutet, dass man genau weiß, was man zu tun hat. Seit den einigen Jahren reagieren die USA in der Außenpolitik immer häufiger auf Impulse, haben aber offenbar keinen strategischen Plan. Es ist offenbar einfach unmöglich, einen solchen Plan zu entwickeln, weil die Situation in der Welt kaum voraussagbar ist. Die USA wollen das jedoch nicht zugeben, weil sie dann de facto einräumen würden, keine Supermacht mehr zu sein. Obama wird wahrscheinlich an seinen Grundsätzen festhalten, sich aber auf die wichtigsten Prioritäten konzentrieren. In den Mittelpunkt der US-Außenpolitik wird voraussichtlich Asien rücken, vor allem wegen des konsequenten Aufstiegs Chinas. Einige traditionelle Themen werden dagegen vernachlässigt werden. Denn die USA müssen ihre Haushaltsausgaben kürzen und deshalb weltweit ihre Aktivitäten herunterfahren. Bei solchen Voraussetzungen ist Russland theoretisch nahezu ein idealer Partner für Amerika. Die konzeptuelle Konfrontation des Kalten Krieges hat ausgedient. Gleichzeitig verliert Europa, das sich damals im Mittelpunkt der Weltpolitik befand, allmählich an Bedeutung. Kontroversen zwischen Moskau und Washington wegen einzelner regionaler Konflikte (wie derzeit in Syrien) kommen immer wieder vor – das ist nichts Ungewöhnliches in der Weltpolitik. Diese Kontroversen werden sicherlich nicht die gegenseitigen Beziehungen vergiften, wie das im Sommer 2008 wegen Georgien der Fall war. Außerdem hat Russland nach wie vor ein gewichtiges Wort bei einigen Themen mitzureden, die für die USA wichtig sind. Man sollte glauben, die Seiten müssten nur noch miteinander sprechen und Vereinbarungen treffen, zumal Obama daran interessiert zu sein scheint. In den russisch-amerikanischen Beziehungen gibt es zu Beginn der zweiten Amtszeit Obamas ein Paradox: Russland gehört nicht zu den Prioritäten für die USA, ist für Obama aber persönlich ein wichtiges Anliegen. Denn er rechnet damit, dass Moskau ihm bei der Lösung seiner wichtigsten Aufgaben hilft. Weder das Weiße Haus noch der Kreml wollen einen offenen Konflikt. Ende 2012 kam es jedoch zu Spannungen – nachdem der US-Präsident das „Magnitski-Gesetz“ abgesegnet hatte, reagierte Moskau mit dem „Dima-Jakowlew-Gesetz“ darauf. Die Atmosphäre vergiftet sich, und zwar ohne objektive Gründe – fundamentale Kontroversen hatte es in den vergangenen Jahren nicht gegeben. Moskau wollte Washington jedoch deutlich machen, dass es sich dessen Einmischung in seine inneren Angelegenheiten nicht gefallen lässt. Nur die Mittel dazu muteten seltsam an. Dass der tragische Tod des russischen Juristen Sergej Magnitski zum Auslöser wurde, war eher ein Zufall. Wenn es ihn nicht gegeben hätte, dann hätte sich womöglich ein anderer Anlass gefunden. Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass sich die Situation weiter zuspitzt. Man sollte aber auch keine weitere Annäherung erwarten. Moskau und Washington haben konkrete Themen und Aufgaben für die Gegenwart und Zukunft. Das Weiße Haus rechnet offenbar mit einer Fortsetzung der 2009 bzw. 2010 relativ erfolgreichen „Neustart“-Politik. Vor allem geht es den Amerikanern um die weitere Atomabrüstung. Der Kreml scheint jedoch nichts an dem Status auszusetzen zu haben und will keine weiteren Gespräche zu diesem Thema. Die Verhandlungen über die strategische Stabilität waren bisher die wichtigste Frage in den Beziehungen zwischen den beiden Ländern. Kein anderes Thema kann sie ersetzen. Die Erfahrungen von Anfang der 2000er-Jahre zeigen: Wenn die Seiten (damals war George W. Bush US-Präsident) ihr Interesse für die Abrüstung verlieren, geraten die bilateralen Beziehungen in eine gefährliche Sackgasse. Doch weder in Moskau noch in Washington weiß man bislang, wodurch das Thema Atomabrüstung ersetzt werden könnte. Dabei sollte man bedenken, dass die instabile und unberechenbare Situation in der Welt eher das gegenseitige Misstrauen und dadurch die weitere Zerrüttung der russisch-amerikanischen Beziehungen provozieren als eine Annäherung voranbringen wird. Weiterführender Link: Obamas neue Aussenpolitik ----------------------------------------------------------------- Flickwerk statt Strategie Mission Machterhalt
Das Leitmotiv Putins lautet: Wie soll man sich vor näher rückenden Bedrohungen schützen? Die Bemühungen um eine innere Stabilität hängen jedoch von der äußeren Stabilität ab. Die äußere Stabilität hängt von vielen Faktoren ab, die von Moskau nicht beeinflusst werden können. Die Behörden können die Risiken nur minimieren. China galt immer als ein Land, das unbeirrt seinen Weg geht. Dieses Jahr zeigte aber, dass es im Reich der Mitte Probleme gibt. Die Machtübergabe wurde von internen Richtungskämpfen, drastischen Überwachungsmaßnahmen und Stimmungsmache gegen Japan begleitet. Je schneller China und sein Einfluss in der Welt wachsen, desto größere Aufmerksamkeit erregt Peking. Deswegen bemühen sich andere Länder verstärkt, China Widerstand zu leisten. Ägypten ist eines der politischen Zentren der arabischen Welt. Von den dortigen Regierenden hängt der weitere Weg der arabischen Welt ab. Mursis Sieg war die logische Fortsetzung der Aufstände auf dem Kairoer Tahrir-Platz. Die Militärs haben sich überraschend zurückgezogen, obwohl viele ihr Festhalten an der Macht erwartet hatten. Im Dezember entstand der Eindruck, dass die Generäle einfach solange warteten, bis die Politik der neuen Regierung zu Protesten führt. Für die islamischen Bewegungen im Nahen Osten ist das Schicksal Ägyptens ein gutes Beispiel. Die Muslimbrüder müssen entweder ihre Regierungstauglichkeit unter Beweis stellen oder zeigen, dass Religion und Staat zwei verschiedene Dinge sind. Syrien stand in diesem Jahr im Mittelpunkt der Weltpolitik. Dort kam es zu einer religiösen Auseinandersetzung (Schiiten gegen Sunniten), einem geopolitischen Kampf auf der regionalen (Saudi-Arabien und seine Verbündete gegen den Iran) und globalen (Russland und China gegen den Westen) Ebene und einem Kampf der Ideen (Demokratisierung gegen autoritäre Stabilität). In Syrien ist ein Mix aus einem Streben nach Reformen, verschiedenen Idealen, Fanatismus, Kabale und Heuchelei zu erkennen. Die Kontroversen um Syrien symbolisieren das Durcheinander im politischen Bewusstsein der Weltgemeinschaft. Je komplizierter die Prozesse sind, desto größer ist das Streben nach einfacheren Verfahren. Russlands Haltung zum Syrien-Konflikt kann unterschiedlich betrachtet werden. Selbst wenn Russland Baschar al-Assad nicht mehr unterstützen sollte und er die Macht verliert, bleiben die inneren Konflikte in dem Land bestehen. Es ist wohl unsinnig, dass die westlichen Länder sich auf die Seite derjenigen stellen, gegen die sie einst im Antiterrorkampf gekämpft hatten. Macht bedeutete immer Verantwortung und das Treffen von Entscheidungen. Auch im 21. Jahrhundert hat sich das nicht geändert. Aber vorher waren die Prozesse logisch verlaufen. Das Verhaltensmodell basierte auf verständlichen Kriterien. In der globalisierten Welt ist alles miteinander verflochten: militärische, politische, wirtschaftliche und kulturelle Aspekte der Macht. Es ist nicht verwunderlich, dass sich die Politik in ein situatives Reagieren geändert hat und jeder Schritt mit großen Risiken verbunden ist. Die heutigen Regierungen machen lediglich Flickarbeit. Das heutige Russland ist ein gutes Beispiel dafür: Es verwandelt sich von einem ideologiefreien Land in eine konservative Trutzburg. Auch in Europa reden die Politiker schon lange nicht mehr von einem Strukturwandel, sondern davon, Löcher zu flicken. Auf diese Weise hat Europa seinen Reformwillen verloren. Das tatenlose Streben nach der Macht ist offenbar der neue Trend in der Weltpolitik. ----------------------------------------------------------------- Viel Ärger, miese Stimmung Russisch-deutsche BeziehungenObwohl das Verhältnis zwischen Wladimir Putin und Angela Merkel nie besonders herzlich war, haben sich die Beziehungen zwischen Russland und Deutschland zuletzt dramatisch verschlechtert. Auslöser des Stimmungstiefs ist Andreas Schockenhoff – stellvertretender Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und Russland-Beauftragter der Bundesregierung. Im Sommer hatte er einen kritischen Bericht über die Innen- und Außenpolitik Russlands vorgelegt, der das deutsche Außenministerium arg in Verlegenheit brachte. Später hat der Bundestag eine abgemilderte Variante der Resolution verabschiedet. Das russische Außenministerium reagierte gereizt auf Schockenhoffs Bericht und verkündete, ihn nicht als offiziellen Gesprächspartner anzuerkennen. In der Bundesregierung und der Union ist Schockenhoffs Russland-Politik umstritten. Viele sind der Ansicht, dass es angesichts der Finanz- und Wirtschaftskrise nicht der beste Zeitpunkt sei, es sich mit Russland wegen des Gerichtsprozesses gegen die Punkband „Pussy Riot“ und anderer autoritären Vorgängen zu verderben. Doch keiner der deutschen Politiker hat Schockenhoff als Russland-Beauftragten in Frage gestellt, weil das als Schwäche gegenüber dem Kreml ausgelegt werden könnte. Deswegen hält die Bundesregierung an Schockenhoff fest, weil nicht Moskau über Personalfragen in Berlin entscheidet. Der vom Außenministerium abgemilderte Bericht hätte vor einem oder anderthalb Jahren wohl kaum solche Reaktionen ausgelöst. Selbst eine scharfe Resolution zur Situation der Menschenrechte wäre kaum der Rede wert gewesen. Russland hätte sich lediglich darüber empört, dass wieder einmal voreingenommen geurteilt worden sei. Doch die russischen Behörden reagieren mittlerweile sehr gereizt auf Vorwürfe und drohen mit der Einstellung der Zusammenarbeit. Deutschland ist nicht das einzige Beispiel: In der jüngeren Vergangenheit missachtete Moskau die Empfehlungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarats, verwies die US-Hilfsorganisation USAID des Landes, stieg aus dem Nunn-Lugar-Programm aus und weist jegliche Kritik an den innenpolitischen Prozessen ab. Das ist kein Zufall, sondern ein Kurswechsel des Kreml, der die Erniedrigungen der 1990er-Jahre vergessen machen will. Die Botschaft lautet: Russland ist ein starker und selbstbewusster Staat. Das Erbe aus der Zeit, als Russland wegen seiner Schwäche auf ungleichberechtigte Beziehungen eingehen und sich ständig Kritik gefallen lassen musste, soll endgültig der Vergangenheit angehören. Russland strebt nach Beziehungen, wie es sie während der Ost-West-Entspannung gab. Deutschland dient dabei als gutes Beispiel. Viele
Großunternehmen in der Bundesrepublik hatten bereits drei Jahre vor Aufnahme der diplomatischen Beziehungen großes Interesse an einer
Wirtschaftskooperation mit der Sowjetunion gezeigt. Der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft wurde 1952 ins Leben gerufen. Geschäftliche
und politische Kontakte entwickelten sich sehr erfolgreich in den 1970er Jahren. Doch der politische und gesellschaftliche Aufbau der Sowjetunion
wurde dabei nicht thematisiert. Für Putin stehen die Wirtschaftsinteressen an vorderster Stelle. Die Ideologie rückt in den Hintergrund, wie es bereits vor 60, 40 und 25 Jahren der Fall gewesen war. Deswegen spricht Putin lieber mit pragmatischen Geschäftsleuten statt mit ideologisch geprägten Politikern. Der Kreml-Chef ist der Ansicht, dass sich die Demonstration von Stärke auszahlen wird. Deutschland und andere westeuropäische Länder vertieften damals die Kontakte, obwohl die Proteste während des Prager Frühlings gewaltsam niedergeschlagen wurden. Von Deutschland erwartet Putin eine neue „Ostpolitik“, wie sie in den 1970er Jahren die Tore öffnete, ohne eine Perestroika zu fordern. Die Perestroika kam später von selbst, weil das Fundament zu brüchig war. Der Vater der Ostpolitik, Willi Brandt, wurde später Zeuge des Zerfalls der Sowjetunion und der Wiedervereinigung der beiden Deutschlands. ----------------------------------------------------------------- Wer ist an Eskalation zwischen China und Japan interessiert? Gebietsstreit zwischen China und JapanVor anderthalb Wochen haben fast alle beim APEC-Gipfel in Wladiwostok die wichtiger werdende Rolle der Asien-Pazifik-Region in der Weltwirtschaft und -politik betont.
Gebietsansprüche sind in Asien keine Seltenheit. Die Liste der Länder ohne Territorialkonflikte ist wesentlich kürzer. China, Japan, Südkorea, Indien haben eine lange „Geschichte der Territorialkonflikte“ - es kam sogar zu Kriegen (China und Indien). Vietnam, die Philippinen, Malaysia, Indonesien, Taiwan streiten ebenfalls um Meeres- und Landgebiete. Die Konflikte sind zwar verschieden, Asiens politische Karte ähnelt jedoch einem Minenfeld, auf dem jeder falsche Schritt zur Explosion führen kann. Fast bei jedem territorialen Konflikt geht es um Ressourcen: Öl, Gas, Fisch, Seltene Erden, Transitrouten u.a. Wäre es aber nur darum gegangen, könnten sie geregelt werden. Es ist zwar schwer, etwas fair zu teilen, doch man könnte zumindest zu der Erkenntnis kommen, dass ein Kompromiss und die Nutzung der Ressourcen besser als ein ewiger Konflikt sind. Neben den materiellen Ansprüchen geht es aber noch ums Prestige.
Seit dem vergangenen Jahr nervt China seine Nachbarländer und die USA mit seinen ständigen Ansprüchen als regionale Seemacht. Die USA kündigten zwar an, den außenpolitischen Schwerpunkt nach Asien zu verlagern, verzetteln sich aber immer mehr im Nahen Osten. Tokio ist der Ansicht, dass sich die Situation ohne seine entschlossenen Schritte verschlechtern wird. Die Verstaatlichung der Inseln sei eine symbolische Tat. Doch der Krieg der Symbole wird nicht weniger erbittert geführt, als jeder andere Krieg. Präventivschritte sind sehr wertvoll. Doch dabei spielt nicht nur der symbolische Aspekt eine Rolle. Japans Verteidigungsminister verkündete nach einem Gespräch mit seinem US-Kollegen Leon Panetta, dass ihm zugesichert worden sei, dass der US-japanische Sicherheitsvertrag auch für die umstrittenen Inseln gelte. Im Ernstfall werden die USA also ihren Verbündeten unterstützen. Panetta hat das offiziell zwar nicht mitgeteilt, es ist jedoch klar, dass Washington keine andere Wahl haben würde. Die USA sind über den weltweiten Anstieg des chinesischen Einflusses, darunter in der Pazifik-Region, beunruhigt. Einer der Gründe ist der Schlingerkurs der Partner und Verbündeten. Sie wollen alle sicher gehen, dass sie nicht allein gegenüber dem aufstrebenden China stehen werden. Dafür gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder einen zuverlässigen Schutzherrn haben, der stärker oder genauso stark wie China ist, oder die Beziehungen zu China ausbauen. Die erste Variante ist möglich, wenn alle von der Fähigkeit der USA überzeugt sind, gegebenenfalls einen Konflikt gegen China zu beginnen. Andernfalls läuft das System der Beziehungen in der Asien-Pazifik-Region Gefahr zu zerfallen. Japan ist also gewissermaßen daran interessiert, eine Situation herbeizuführen, die den USA keine andere Wahl lässt, als Tokio zu unterstützen. Sonst würden sie das Vertrauen anderer Länder verspielen. Washington könnte aber auch Gründe für die Zuspitzung der Situation haben. Es wird seit langem darüber gesprochen, dass eine Konfrontation zwischen den USA und China (auch eine militärpolitische) unvermeidlich sei. Peking weiß, dass es militärisch viel schwächer als die USA ist und versucht seit Jahren, Konflikte zu vermeiden und seine wirtschaftliche Stärke auszubauen. Die Stärkung der Wirtschaftsmacht und die Vermeidung von politischen Konflikten war ein Gebot von Deng Xiaoping. In den letzten Jahren nahm die Versuchung zu, Peking schwankte jedoch und ging einer Eskalation aus dem Weg, obwohl die regionalen Differenzen dazu verleitet haben. Für die USA wäre es vorteilhaft gewesen, wenn China jetzt Taten sprechen lassen würde. Das Ergebnis wäre für Peking sicher negativ gewesen. Nach dem Misserfolg würde China den Wunsch aufgeben, jemanden politisch herauszufordern. Das heißt, dass Washington im Falle eines Konfliktes garantiert als Sieger hervorgehen würde. In 15 bis 20 Jahren könnte dies aber schon anders aussehen. Peking ist sich dessen offenbar bewusst. Im umstrittenen Gebiet sind Kriegsschiffe nur in der Ferne zu sehen. Obwohl unbewaffnet soll das große Heer der Fischerboote als Abschreckung dienen. Falls ein Fischerboot von der japanischen Marine angegriffen werden sollte, würde das bereits als Gewaltakt eingestuft werden. Der Insel-Streit wird sich bald wieder legen. Die Seiten werden an ihren Meinungen festhalten. Heute ist niemand bereit, die engen Wirtschaftsbeziehungen zu opfern. Auch der politische Konflikt wird bestehen bleiben. Deswegen ist eine Wiederholung der Situation unvermeidlich. Jede weitere Zuspitzung wird gefährlicher als die vorherige sein. Russland wird nur Beobachter sein. Es wird sich nicht einmischen und sich neutral verhalten. Russland hat dieses Privileg. Die USA können sich das nicht erlauben. ----------------------------------------------------------------- Russland und Türkei steht ein schwerer Weg bevorIn Moskau war der türkische Regierungschef Recep Erdogan zu Besuch – ein alter Gesprächspartner von Wladimir Putin. Gesprochen wurde natürlich auch über Syrien. Beide Länder spielen die wichtigste Rolle bei allen Prozessen, die mit der Syrien-Krise zusammenhängen. Sie haben aber verschiedene Standpunkte. Die Positionen Moskaus und Ankaras liegen soweit auseinander, dass ein Kompromiss kaum möglich ist. Doch das wird sich auf die Beziehungen zwischen Russland und der Türkei kaum auswirken. Russland und die Türkei haben eine ähnliche Geschichte in Bezug auf Europa. Beide Mächte haben seit langer Zeit Großmachttraditionen. Im Laufe vieler Jahrhunderte spielten sie eine wichtige Rolle in der europäischen Politik. Doch sie wurden von den meisten europäischen Mächten nicht als gleichberechtigte Partner wahrgenommen. In beiden Nationen wird immer noch gestritten, ob sie zur europäischen Welt gehören und, wenn ja, in welchem Maße. In den vergangenen Jahrzehnten (Russland – 20 Jahre, die Türkei – 50 Jahre) äußerten sowohl Moskau als auch Ankara den Wunsch, sich Europa anzuschließen, wobei ihre Identität beibehalten werden soll. Das Ergebnis war in beiden Fällen ähnlich. Doch an diesem Punkt enden die Ähnlichkeiten. Während Russland abwartet, attackiert die Türkei die Europäer. Das energische Verhalten der Türkei ist verständlich: Die Türken haben sich von der EU mehr erhofft als Moskau. Selbst wenn die Zeit von 1963 (als die Beitrittsfrage erstmals gestellt wurde) bis Ende des 20. Jahrhunderts ausgeklammert wird, so ist klar zu erkennen, dass sich Erdogan nach seinem Machtantritt zu Beginn der 2000er Jahre stark um eine Demokratisierung bemühte. Missgünstige vermuten, dass das wahre Ziel des Regierungschefs nicht die Europäisierung war. Unter dem Deckmantel der demokratischen Reformen wollte er den politischen Einfluss der Armee brechen. Je schneller die Türkei den Fahrplan zum EU-Beitritt umsetzte, desto zurückhaltender wurde die EU mit Versprechungen. Ende der 2000er Jahre wurde offensichtlich, was von vielen nicht laut ausgesprochen werden konnte. Die Türkei wird nicht wegen Demokratiemängeln, sondern wegen zu vieler Muslime nicht in die EU aufgenommen. Die Europäer konnten sich auch vorher keine muslimische Macht mit 80 Millionen Einwohnern vorstellen. Doch die zunehmende Furcht vor dem Islam in Westeuropa hat diese Möglichkeit endgültig begraben. Es ist schwer zu sagen, wann die Türken das verstanden haben. Ab einem gewissen Zeitpunkt hat Ankara einen neuen Kurs eingeschlagen. Die Türkei setzt die Verhandlungen über den Beitritt (also über die Annäherung des eigenen sozialpolitischen Modells mit europäischem Vorbild) fort. Jetzt kritisiert Ankara Europa wegen der Verletzung der Menschenrechte der Muslime, der Intoleranz, der Fremdenfeindlichkeit u.a. Wegen des Vorsitzes Zyperns hat die Türkei die offiziellen Kontakte mit der EU eingefroren. Die Türkei bekam auch mehr Auftrieb, weil Griechenland als historischer Rivale am Abgrund steht und ganz Europa große Kopfschmerzen bereitet. Die sich selbst als wichtigste Macht in der Region ansehende Türkei wird aktiver, verfolgt eine selbstständige Politik und will gleichberechtigte Beziehungen zu allen, darunter auch zu den USA, aufbauen. Die Aktivitäten der Türkei haben alle überrascht, vor allem jedoch Europa, das nicht weiß, wie es darauf reagieren soll. Trotz wirtschaftlicher und politischer Erfolge wird Ankara nicht genug Ressourcen für einen Alleingang haben. Erdogan rechnet mit einem kumulativen Effekt und brescht in alle Richtungen vor, um zu zeigen, wie ernst es ihm ist. Doch wenn Ankara allzu eifrig wird, wird es Widerstand aus allen Richtungen spüren. Die Türkei hat zwar viele Partner, jedoch keine Freunde. Fast alle Nachbarn sind Ankara verdächtig, obwohl jeder damit rechnet, die Situation auszunutzen und mit den Türken eng zu kooperieren. In diesem Sinne ähnelt die Türkei stark Russland. Die Rachsucht gegenüber Europa wird zwar nicht offen verkündet, ist jedoch sichtbar. Die türkische Regierung will Europa zeigen, welchen Verlust es wegen seiner Verweigerung hinnehmen muss, als es die Tür zuschlug. Ein offener Machtkampf ist im Nahen Osten zu erkennen. Die Türkei will die EU als Schutzherr der neuen Demokratien ersetzen. Dass die EU die Türkei als wichtigste Energie-Drehscheibe unterstützt hat, kann sich später als Nachteil herausstellen. Neben der Abhängigkeit von Lieferanten (Russland) wird es die Abhängigkeit von einem großen Transitland (Türkei) geben. In der sich schnell verändernden Welt ist die Fähigkeit eines jeden Landes, die vorrangigen Aufgaben und den Interessenbereich sowie eine stabile Identität richtig zu bestimmen, ein wichtiger Stabilitätsfaktor. Sowohl Russland als auch die Türkei erleben eine umfassende Transformation und stehen am Anfang dieses Weges. Diese Tatsache fördert das gegenseitige Interesse mehr als ihre Gemeinsamkeiten bei globalen und regionalen Fragen. ----------------------------------------------------------------- zum Kommentarteil |
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